Mit Sicherheit behaupten wir das in vielen unserer Äußerungen anscheinend Gewagte, da wir überzeugt sind, dass die historische, unwiderlegbar schwerwiegende Bestätigung folgt. Je begrenzter unser Thema ist, wenn wir z.B. einen nebensächlichen Punkt der Pseudokritik analysieren, die versucht, das ganze Feld der wirklichen Kritik der Gegenwart zu überdecken, desto schneller wird natürlich die Bestätigung folgen, obwohl die objektiven Grenzen selbst solcher Fälle nur in begrenzten, sich gerade damit beschäftigenden Kreisen eine Entmystifizierung bewirkt haben. Ein solches, jetzt offensichtlich gewordenes Ergebnis hatte der S.I.-Boykott gegen die Zeitschrift ‘Arguments’ (1956-1962), die für den konzentrierten europäischen Ausdruck dieser Pseudokritik gehalten werden konnte.
Bekanntlich waren bei ‘Arguments’ zwei fähige Köpfe - Axelos und Edgar Morin. Ihr weiterer Weg - nach dem Scheitern ihres höchsten Unternehmens - ist vielsagend. Schon im Juli 1964 stürzte sich Axelos in die Nummer 17 der Zeitschrift ‘Planète’, in der die Redaktion ihn als jemanden vorstellt, der ‘in Betrachtungen’ schwelgt, “die auch die unseren sind”, und versucht “ein offenes und mehrdimensionales, fragendes und weltperspektivisches Denken” zu fördern. Im darauffolgenden Jahr hat Morin ernsthaft in mehreren Ausgaben von ‘Le Monde’ Lehre und Methoden von ‘Planète’ untersucht (wobei eine solche Pseudounparteilichkeit gegenüber dem Nichts schon so viel wie eine Versöhnung ist). Er hat übrigens eher positive Schlüsse gezogen, indem er ‘Planète’ nur dazu aufforderte, noch ‘planetarischer’ und dadurch noch besser zu werden und er deutete auf seinen Spießgesellen Axelos als auf ein schon vorhandenes Zeichen dieses Fortschritts hin. Der Lohn für seine ‘public-relations’ -Dienste ließ nicht sehr lange auf sich warten. So konnte man in ‘Le Monde’ vom 28.Januar 1966 folgendes lesen: “Louis Pauwels und Claude Planson, der ehemalige Leiter des ‘Theatre des Nations’, haben einen neuen Verein, den A.R.C. - ‘Verein zur Erforschung von Kulturen’ - in den Räumen der Zeitschrift ‘Planète’ eingerichtet. Im Direktionskomitee sitzen u.a. Maurice Béjart, Jean Duvignaud, Edgar Morin, Jean Vilar, Jan Kott.” Unterintellektuelle Manifestationen wie ‘Planète’ sind nur die extremen Produkte der Auflösung einer gesamten Kultur. Diejenigen, die nicht imstande sind, die Totalität des politisch-kulturellen Spektakels abzulehnen - und mit seinen vielen Verteidigern nicht praktisch brechen wollen - können schließlich nicht einmal die ungeheuerliche, offensichtlich in ‘Planète’ zur Schau gestellte Dummheit ablehnen. Selbst diese Grenze des ‘Planetarismus’ ist für jemanden nicht deutlich, der wirklich mit nichts in der organisierten gegenwärtigen Konfusion gebrochen hat. So wird einer, der nicht dem ganzen ‘Planetarismus’ zustimmt, doch etwas ‘Planetarismus’ akzeptieren - wie z.B. etwas Godard, etwas Psychosoziologie oder etwas bürokratische ‘Orthodoxie’. Früher schon akzeptierte er etwas Kritik - gut gemischt mit etwas anderem. Die ganze ehrfurchtsvolle, falsche Kritik wird letzten Endes eine Koexistenz mit dem ‘Planetarismus’ akzeptieren, da die vielen leeren Absichten, durch die diese Leute fast überall einander entgegengesetzt werden, sie nicht daran hindern, praktisch nebeneinanderzustehen und sich in demselben Rahmen des konfusionistisch-spektakulären Denkens gegenseitig zu unterstützen. Dieses Nebeneinanderstehen ist genau das Prinzip des gegenwärtigen intellektuellen Spektakels, das schizophrene falsche Bewusstsein unserer Epoche (vgl. z.B. J. Gabels Werke). Gleichwohl beleuchtet der Zusammenbruch von ‘Arguments’ seine Vergangenheit als ‘linken Universitätsplanetarismus’, indem er gleichfalls den Prozess der osmotischen Ansteckung jeder Halbkritik enthüllt, die sich einer vollkommen klaren Wahl entzogen hat, die von klar entschiedenen Handlungen auf allen Gebieten der Aktivität - inklusive den Neigungen und Begegnungen im alltäglichen Leben - nicht zu trennen ist.
Die Gruppe um die ‘Socialisme ou Barbarie’ führt ‘Arguments’ weiter. Sie wird dasselbe Ende nehmen. In der Nr.39 von ‘Socialisme ou Barbarie’ (März 1965) kann sich derselbe Morin - vermutlich wegen des Mangels an mittelmäßigsten Redakteuren und da er sowieso nicht mehr befürchten muss, sich zu kompromittieren, indem er hier eine Rolle spielt - mit gutem Recht in dem Kreis um Cardan wie zu Hause fühlen, diesen erbärmlichen Theoretiker, der vor zwei Jahren ‘die Revolution neu beginnen wollte’ und praktisch seine eigene Anpassung an die gemeinsame Kultur der mittleren Führungskader besonders schlecht vollendet. Mothé, der mustergültige Arbeiter dieser alten revolutionären Gruppe, kündigt in seinem Buch ‘Ein Militant bei Renault’ (Verlag Seuil) seinen freudigen Beitritt zur ehemaligen französischen Konföderation der christlichen Arbeiter an, durch deren Demokratie er sich stark angesprochen fühlt. Nun taucht er auf einmal in der Zeitschrift ‘Esprit’ (Februar 1966) auf, in der er folgendes über die Präsidentenwahl offenbart: “Durch seine Privatisierung und Reduzierung auf den Zustand eines Konsumenten des Spektakels wird der Staatsbürger gezwungen, die Politik auf die Ebene von Haushaltsproblemen zu verlagern”. Hier zeigt sich die normale Folgeerscheinung des ‘Argumentismus’ - und zwar etwas verschwommenen ‘Situationismus’ in die vornehme Welt zu bringen - d.h. also verkommenes kritisches Denken aber auf einer verkommenen Tribüne, wobei eine Verkommenheit die andere ausgleichen soll! In derselben Nummer 39 von ‘Socialisme ou Barbarie’ zieht der ehemalige Argumentist Yvon Bourdet gegen die I. Internationale, die er so gut mit den voneinander verschiedenen bürokratischen Mächten, die die beiden darauffolgenden Internationalen beherrscht haben, gleichstellt, dass er zu schreiben wagt: “Die drei Internationalen haben einander nichts vorzuwerfen”. Für ihn, der für jeden historischen Beweis taub ist (hier würde die Rolle Polens und der Polen im Exil in allen Kämpfen des XIX. Jahrhunderts an und für sich genügen), ist übrigens der Begriff des Internationalismus immer ‘nur auf der Ebene des vor allem aus Emigranten bestehenden Apparats (des Generalrats) erlebt worden”. Hier wird das doppelte Delirium sichtbar, durch das einerseits die moderne Wirklichkeit des Apparats als eines zeitlosen, mit all seinen Verbrechen ewig verbundenen Begriffs auf eine Zeit übertragen wird, die sie nicht kannte; dem es andererseits gelingt, die Qualität des Emigranten von seiner Herkunft zu trennen - von einem Kampf, der in verschiedenen Ländern aus denselben Verhältnissen spontan entstand und zu einer internationalen Aktionsgemeinschaft tendierte, zu einer Partei im spontanen Sinn, den Marx damals diesem Wort gab. Der Grad des Internationalismus ist dem des Bewusstseins der revolutionären Wirklichkeit genau gleich - einem immer schwach gebliebenen Bewusstsein, das durch die ganze geistige und moralische Organisation der herrschenden Gesellschaft, durch tausend Niederlagen und hunderttausend Cardan-Bourdets verdrängt wurde. Aber die Rückkehr des Verdrängten hat ihren Platz in der ganzen modernen Gesellschaft, die durch das Ende ihres Spektakels aufgedeckt werden wird. Bis dahin ist ‘Socialisme ou Barbarie’ derselben Meinung wie der Historiker Rougerie in der Sondernummer von ‘Mouvement Social’ über die I.A.A.(April 1965). Die Vorsicht seines weisen Schlusses über den Internationalismus führt mit hundert Jahren Distanz zu folgender bewundernswerten, unabsichtlichen Parodie, zu diesem Meisterwerk der Fragestellung: “Das Problem bleibt offen; im Augenblick haben wir keinen anderen Beweis für das Vorhandensein eines Arbeiterinternationalismus als das der Internationale selbst.”
Auf ähnliche Weise ist der einzige Beweis für das Vorhandensein des ‘Cardanismus’ das Denken von Cardan selbst. Das ist aber wenig! Die Verwirrung der gängigen Ideen, die Cardan in einem endlosen Artikel weiter durchknetet - dessen Ende von einer Nummer zur anderen trügerisch angekündigt wird, während er doch immer wieder rastlos nach vorn getrieben wird, ohne je angefangen zu haben - hat die endgültige Unmöglichkeit einer so etwas duldenden Gruppe offenbart. Cardans ideologischer Brei geht so weit, dass zehn Individuen - selbst wenn sie dem Schwachsinn nahe sind - sich nie über einen Text einig werden könnten, dessen eigener Autor sich in zerstreute Inselchen auflöst. Cardans Ideen sind so weit zersplittert, dass er sich von nun an nicht mehr fünf Jahre lang mit einem Pseudonym begnügen kann: um seine zusammenhanglosen Variationen und die Folgen seiner Plattheit zu verdecken, brauchte er eigentlich alle fünf Seiten ein neues Pseudonym.
Cardan, der vermutlich auf diesem Gebiet wie sonstwo glaubt, dass davon zu sprechen genügt, um etwas zu besitzen, plappert undeutlich immer wieder vom ‘Imaginären’, womit er mehr oder weniger seine wabbelige Wesenlosigkeit als Denker rechtfertigen will. Ganz wie die heutige offizielle Welt versteht er die Psychoanalyse als eine Berechtigung des Irrationalen und der tiefen Gründe des fehlenden Bewusstseins, während die Entdeckungen der Psychoanalyse ein tatsächliches - nur aus offensichtlichen sozio-politischen Gründen noch nicht benutztes - Material zur Verstärkung einer rationalen Kritik der Welt sind. Die Psychoanalyse verfolgt das fehlende Bewusstsein, dessen Elend und elende Unterdrückungsinstanzen noch tiefer, das seine Kraft und zauberhafte Pracht nur einer recht banalen praktischen Unterdrückung im alltäglichen Leben verdankt. Cardan verfehlt sofort den Weg, noch bevor er gesehen hat, dass es immer ein etabliertes Imaginäres gibt, das das wirkliche Denkbare verdeckt. Dem gesellschaftlichen Imaginären haftet nie die reine Unschuld und Unabhängigkeit an, die ihm von seinem Neubekehrten Cardan zugeschrieben wird. So ist z.B. das am höchsten politische Problem des Jahrhunderts eine Sache des Imaginären: man hat sich eingebildet, die sozialistische Revolution sei in der UdSSR erfolgreich gewesen. Das Imaginäre kann in einer versklavten Gesellschaft nicht frei sein. Warum würde man sich sonst - und nicht nur in ‘Planète’ - so viele Cardanereien ausdenken?
In der Nr.40 von ‘Socialisme ou Barbarie’ breitet sich Cardans Fragestellung auf die ‘historische Herstellung der Bedürfnisse’ in der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft üppig aus. Cardan ist ein beachtlicher Fragesteller; er kann weit sehen; man soll ihm nicht mit den banalen ‘wahren Bedürfnissen’ kommen - er sucht auf höherer Ebene nach der Gewissheit der grundsätzlichen Unsicherheit aller menschlichen Unternehmen. So schreibt er (von uns hervorgehoben): “Vergeblich würde man diese Situation ausschließlich als eine ‘Ersatzantwort’ darstellen, wie das Angebot von Substituten für andere Bedürfnisse - die ‘wahren’ Bedürfnisse, die von der gegenwärtigen Gesellschaft nicht befriedigt werden. Denn angenommen, dass solche Bedürfnisse vorhanden und bestimmbar sind, fällt es um so stärker auf, dass eine solche Wirklichkeit völlig von einer ‘Pseudo-Wirklichkeit’ überdeckt werden kann.” So werden für Cardan die Unterdrückung selbst und all ihre genau orientierten Lügen, ihre gesamte spektakuläre Organisation der ‘Pseudo-Wirklichkeit’ problematisch, sie werden los und ledig gesprochen, da er sich selbst völlig auf die Seite der Pseudowirklichkeit der Kritik geschlagen hat. Anstatt zu versuchen, die erstaunliche, ‘auffallende’ Funktion des sozialen Scheins im modernen Kapitalismus zu erklären (was den Schlüssel zu jedem neuen revolutionären Versuch ist) zeigt Cardan die platte positivistische Sicherheit des Komödienbourgois, der sagt: “Das wäre doch ein starkes Stück”, um ein Problem wegzuleugnen, das seinem Menschenverstand widerspricht. Er ist jetzt nicht nur blind geworden, sondern verneint auch, dass es etwas zu sehen gibt. Doch die Pseudowirklichkeit selbst zeigt - auf negative Weise - das, was sie verdeckt. Dass alle Bedürfnisse, die von der Warenproduktion hervorgerufen werden bzw. werden könnten, genauso künstlich wie willkürlich sind - gerade das wird durch den auffallenden Widerspruch der Werbung im sozialen Spektakel dementiert, die von dem spricht, was sie nicht verkauft und das nicht verkauft, von dem sie spricht. Sogar Soziologen können leicht sehen, was die für die Verbreitung irgendwelcher Waren tätige Werbung verspricht und nicht hält: sie verspricht Sicherheit und Abenteuer; die echte Entwicklung der Persönlichkeit und die Anerkennung durch die anderen; Kommunikation und vor allem die Erfüllung des erotischen Verlangens. Nach Freud und Reich z.B. weiß man tatsächlich besser als vorher, was der ‘wahre sexuelle Trieb’ ist, und seine vorherrschende Rolle in den Werbungsbildern zielt offensichtlich darauf ab, den Leuten einen Warenersatz für das zu verkaufen, was sie nicht haben, als zahllose, gleich annehmbare, imaginäre Möglichkeiten. Das vorhandene Imaginäre, von dem Cardan spricht, ist nicht das, was über einige elementare Bedürfnisse hinaus geht, sondern eine Schranke vor ihnen. Diese Bedürfnisse sind immer noch keineswegs erfüllt - außer dem einfachen Bedürfnis nach Nahrungsmitteln in nur einem Teil der Welt. Aber all diese Cardan entgangenen Wahrheiten bedeuten doch nicht, dass es diese ‘im wesentlichen unabänderliche menschliche Natur’ gibt, ‘deren Hauptmotivation die ökonomische ist’ - ein Irrtum, den Cardan in seiner totalen Ignoranz gegenüber dem dialektischen Denken glaubte, als das ‘verborgene Postulat’ des Marxismus (vgl. unser Zitat in ‘S.I.’ Nr.9) enthüllen zu können. Wir denken mit Marx, dass “die ganze Geschichte nur die fortschreitende Umwandlung der menschlichen Natur ist”. Nur muss man den gegenwärtigen Moment der Geschichte verstehen - hier und jetzt. Alle, die dies verstehen, verstehen gleichzeitig sehr gut Morins und Cardans Verständnislosigkeit und deren praktische Verbrüderung. Selbst die Auflösung von ‘Socialisme ou Barbarie’ ist nichts Neues: sie folgt ‘Arguments’ treu bis in den Mülleimer, den wir ihr im voraus zuteilen konnten.