Im letzten Kapitel seines Buchs ‘Die Pariser kulturelle Avantgarde seit 1945′ (Verlag Guy Le Prat 1962) deutet Robert Estival die situationistische Theorie auf eine Art und Weise, der keiner von uns zustimmen kann, da das Verständnis der soziologischen Spezialisierung, das vom Verfasser hier auf ein Gebiet angewandt wird, wo die S.I. tatsächlich beobachtet werden kann, selbst dadurch beurteilt werden muss, dass man sich auf unsere gesamten Thesen bezieht, und unmöglich für ein äußerliches und unabhängiges Messinstrument gehalten werden kann. Offensichtlich bestehen zwischen Estival und uns einige Grundgegensätze, was die Handhabung von Begriffen und die historische Einschätzung der globalen Gesellschaft betrifft. Auf einer ganz anderen Ebene wollen wir uns jedoch hier auf den Hinweis beschränken, dass von den neunundvierzig Zitaten, die über die situationistische Theorie zu berichten behaupten, nur fünf aus Texten stammen, die nach der Bildung der S.I. entstanden sind, wobei keins aktueller ist als Mitte 1960. Durch diese systematische Aufwertung der Forschung nach dem historischen Ursprung eines selbst nebelhaft gebliebenen Ganzen setzt sich Estival der Gefahr aus, gerade das schlecht zu verstehen, womit er sich beschäftigt und nach dessen echtem Sinn er mit größerer Sicherheit im Lichte der höheren, komplizierteren, daraus folgenden Entwicklung suchen würde. Wegen dieser ungewöhnlichen Informationsauswahl und unsere methodologischen Meinungsverschiedenheiten außer Acht lassend müssen wir sagen, dass das Thema des letzten Kapitels in Estivals Buch trotz seines Anscheins nicht die S.I. ist.
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In den Schlussfolgerungen seines Buches ‘Einführung in die Modernität’ (Verlag Editions de Minuit 1962) erteilt Henri Lefebvre der S.I. einige voreilige Lobsprüche, mit denen wir nicht einverstanden sind. Erstens lehnen wir es ab, mit der Jugend gleichgestellt zu werden, was eine elegante Art ist, die Probleme zu neutralisieren, indem man ihnen etwas von der unwiderstehlichen Kraft der Jahreszeiten bzw. von launenhaftem soziologischen Wechsel verleiht, deren Entwicklung beobachtet werden soll. Was uns betrifft, so geben wir nicht vor, die Zukunft zu repräsentieren - eine berechenbare Zukunft wird nur durch das junge Personal repräsentiert, das zu dem Zweck ausgebildet wird, die Folgen einer gewissen Gegenwart zu verwalten - z.B. einen Jahrgang der Saint-Cyr oder der Kaderschule der russischen KP. Wir wollen uns auch nicht mit diesem abstrakten Recht auf die Zukunft zufriedengeben. Die Frage ist: aufgrund welchen Unverständnisses, welcher Schlappheit, Vorsicht, Gefälligkeit werden bestimmte gegenwärtige Forschungen und Behauptungen gemieden, verheimlicht oder durch andere ersetzt? Und auch: wer ist an der gegenwärtigen Mittelmäßigkeit mitschuldig, wer tritt ihr entgegen, wer versucht vermittelnde Schritte? Diese sind übrigens um so zweckloser, als ihr Erfolg nur bedeuten würde, man solle darauf warten, dass die wirkliche “Jugend” der Kritik von anderswoher kommt - denn wie könnte sie unter die Organisatoren der langen, unredlichen gestrigen Dummheit treten wollen, die immer noch versuchen, sich durch einen Modernisierungsanstrich weiß zuwaschen? “Der Oppositions- und Versöhnungsgrad, zu dem eine Epoche fähig ist, ist kontingent”, schreibt Hegel. Nicht dieser Grad sollte in den sechziger Jahren bedeutend variieren, sondern das Maß an subjektiver Intelligenz und Mut, die nötig sind, um sich nicht an die falschen Versöhnungen anzupassen, ohne sich etwas von der Wirklichkeit der Opposition zu verhehlen. Auf diesem Gebiet können die objektiven Bedingungen nie reif werden, sowie es keine Ultra-Linke gibt. Man kann seine Gegner - d.h. seine Wahrheit - sofort finden.
Das eben Beschriebene wird durch den zweiten unannehmbaren Punkt wunderbar veranschaulicht: es handelt sich um einen Vergleich zwischen der S.I. und einer oppositionellen Jugendgruppe der KP, die so sehr im Untergrund tätig sein soll, dass sie angeblich bisher weder etwas gemacht noch veröffentlich haben soll. Hier treffen wir den wunden Punkt. Wie ein Ebenbild der Älteren zweifelt diese schöne Jugend, sie sucht sich selbst und will es mit niemandem verderben. Gerade so findet man nichts und akzeptiert die gesamte dreckige Gegenwart - tatsächlich mit der Ungeduld der Jugend, die mit der Zeit nachlässt. Übrigens stellt sie Lefebvre uns entgegen, indem er sagt, sie seien nicht an der UdSSR verzweifelt. Wir auch nicht. Eine zukünftige revolutionäre Gesellschaft scheint in der UdSSR (und natürlich auch in England) schneller als in Mauretanien verwirklicht werden zu können, was die Fanon-Anhänger darüber auch immer meinen mögen. Diese Gruppe aber, die “schweigt, bis ihre Stunde gekommen ist” - wem steht es denn zu, unsere Stunde in der Geschichte zu bestimmen? - wäre in der KPF viel weniger verborgen, wenn sie die “trostlose” Wirklichkeit der heutigen Macht in Russland (und natürlich auch in England) etwas mehr erforscht hätte.
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Mehrere Personen haben uns darauf aufmerksam gemacht, dass Leute, welche hier und da irgendeine kleine kulturelle Rolle spielen, angeben, diesen oder jenen Situationisten persönlich zu kennen oder gekannt zu haben und außerdem mit gemischt lobenden und tadelnden Worten ihre “Erinnerungen” an uns verbreiten. Wir müssen den Lesern dieser Zeitschrift zur Kenntnis geben, dass es in den meisten Fällen falsch ist. Wir können sogar einen ziemlich guten Test vorschlagen, um die Lügner aufzuspüren: diejenigen, die wirklich etwas mit uns zu tun hatten, sagen nur Schlechtes über uns - außer einigen wenigen, die uns ähnlich waren - und sie gehen sogar leicht bis zu den übermäßigsten Verleumdungen. Was haben diese falschen Erinnerungen an Kontakte mit der S.I. für einen Sinn? Es ist einfach. Wir sind nicht leicht zu treffen. Wir schätzen den Dialog hoch genug, um mit seiner elementaren Grundlage zu beginnen - sofort denen seinen Schein zu verweigern, mit denen man ihn unmöglich führen kann. Wir wären es nicht wert, dass irgendwer uns ernst nimmt, wenn wir uns auf die Höflichkeitsbezeigungen, Diskussionen oder den Meinungsaustausch der Kunst- und Kulturkreise in den letzten Jahren eingelassen hätten - und vor allem auf deren elende modernistische Fraktion, die immer noch damit beschäftigt ist, sich mit ihnen abzufinden. Diese Kreise haben diesen unseren Boykott normal beantwortet, indem sie unser Vorhandensein offiziell ignoriert haben. Da die S.I. jetzt schon ein wenig zu bekannt geworden ist, als dass man sich weiter den Schein geben könnte, sie total zu ignorieren, und da diese Leute immer noch so wenig Aussichten, mit uns zu verkehren, sowie keine Lust haben, diesen Umstand zuzugeben, ist es für sie vorteilhaft zu behaupten, sie hätten es schon früher gemacht. Man nehme sich also vor den Verfälschungen in Acht: nicht jeder hat wenigstens die Chance gehabt, aus der S.I. ausgeschlossen zu werden!
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Die durch zahlreiche Schwierigkeiten verzögerte Herausgabe der S.I.-Zeitschrift in deutscher Sprache soll erst im ersten Trimester 1963 anfangen. Die Adresse: ‘Der Deutsche Gedanke’, Postfach 866, München 1. Das ‘Taschenwörterbuch der situationistischen Begriffe’, dessen Veröffentlichung durch den Zentralrat im Februar 1962 beschlossen worden war, wird seinerseits noch weiter verschoben, aber wahrscheinlich in einer umfangreicheren Form erscheinen. Die Adresse der Zeitschrift ‘Situationistisk Revolution’: Kristinelyst, Helsted-Randers, Dänemark. Die neue Adresse der ‘Internationale Situationniste’: BP 75.06, Paris. Für die S.I.-Veröffentlichungen in holländischer Sprache ist Jan Strijbosch im Café Tienpont, 2 Paardenmarkt in Anvers. Und in England: Alexander Trocchi, 32 Heath Street, London N.W.3.
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Mehrere situationistische Texte sind in der 3. Nummer von ‘Notes Critiques’, eines ‘Bulletins für die revolutionäre Forschung und Orientierung’ (25, Cours Pasteur, Bordeaux) abgedruckt worden. Im Ganzen ist diese Nummer ein deutlicher Fortschritt gegenüber gewissen, in den vorigen Nummern erörterten Wahlthesen (Leforts Organisationsauffassung usw.) Die selbständigere und kohärentere Veröffentlichung der Auffassungen dieser Gruppe selbst, die den äußeren, manchmal nur schwer zu vereinbarenden Tendenzen immer noch einen zu grossen Raum zugesteht, würde einen entscheidenden Fortschritt bedeuten.
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Die schwächliche nashistische Gang, deren einzige öffentliche Stützpunkte in Schweden waren, die aber dort einige Emigranten auszubilden versuchte, um sie dann zur Unterstützung des Konfusionismus in ihr jeweiliges Land zurückzuschicken, hat sich einige Zeit nur mit Lügen zusammengeballt und zusammengehalten, von denen die einen lächerlich und die anderen gemein waren. Wir wollen auf eine der letzteren hinweisen, die in der Stockholmer Erklärung vom August der S.I. vorwirft, sie hätte sich mit den in München verurteilten Deutschen “erst dann” solidarisch erklärt, “als das Urteil gefällt worden war … eine Intervention ohne Bedeutung und sogar noch etwas spät an jenem Tag”, obwohl selbst die skandinavische Presse über unsere Intervention bei der Verhandlung berichtet hatte. Dagegen haben dann diese Nashisten, die sich bei dem Prozess einiger deutscher Ausgeschlossenen so “solidarisch” verhalten hatte, dass man überall glaubte, Nash selbst sei mitangeklagt, den größten Druck in Skandinavien ausgeübt, damit Leute von dem - diesmal wirklichen - Prozess gegen Lausen nicht einmal sprechen konnten, der in dasselbe Pressevergehen ernsthafter verwickelt war, weil Lausen immer noch in der S.I. war. Dann erschienen diese Lügen so dick, dass die Nashisten, die doch Zeitungen und die Massen so lieben, auf einmal isoliert waren. Sie haben das Mögliche geleistet, um möglichst viele Leute zu kompromittieren, indem sie deren Namen bei ihren eigenen Aktivitäten erwähnten, und haben sich harte öffentliche Dementis zugezogen. Sie sind nach allen Richtungen auseinandergegangen, wobei ihre gegenseitigen Einigungen, die in einem erschöpfenden Tempo abbröckelten und wieder zustandekamen, sich nach rein probalibistischen Verbindungen von Handelsangelegenheiten richteten. Die Tür, die sie für jeden Erstbesten offen hielten aufgrund ihres einzigen originalen Grundsatzes (sie als Ausgeschlossene entdeckten, dass sie gegen den Ausschluss waren), wurde im Augenblick danach auch dafür benutzt, im Laufschritt vor ihnen zu fliehen. Einige dieser Überläufer meldeten sich danach bei der S.I., die all jene, die über den Nashismus gekommen waren, ohne Diskussion oder Ausnahme von sich gewiesen hat.
In die Flucht getrieben, wurden die Nashisten schließlich gezwungen, es zu einem Ausbruch kommen zu lassen, indem sie mit ihren eigenen Ideen herausrückten, da diese der S.I. auf eine zu gefährliche Weise bekannt wurden - vor allem nach dem neuen, Ende November von J.V. Martin an der Universität von Aarhus eingeführten Konferenzstil. Sogar die Bluffbezugnahme auf eine ‘II. Situationistische Internationale’ haben sie im Dezember 1962 in Kopenhagen bei der Kundgebung der letzten nashistischen Gruppe aufgegeben. Und diese reinen, auf Plakaten verbreiteten nashistischen Ideen bestanden - weit über den Reformismus und eine bestimmte Tradition hinaus, der sie sich im August bereits angeschlossen hatten - aus einem Angriff gegen die Spielsituationisten zugunsten von kultischen Riten; dazu kamen wiederaufgenommene messianische Themen über den Einzigen, der zu Gott wird, sowie die ganzen Folgerungen aus diesem wohlbekannten Lied.
Am Ende seines Versuches einer spektakulären Opposition gegen die S.I. tritt der erste Nashismus - es werden bestimmt noch andere entstehen - nur noch als Staub auf. Es werden nur noch schwache nashistische Niederschläge in Schweden, in Holland und besonders in Deutschland festgestellt, wo die Zeitschrift des idealistischen Nashismus ‘Unverbindliche Richtlinien’ sehr unauffällig situationistische Erinnerungen unter ihre Rückkehr zum eschatologischen Hirngespinst und zur ‘Führermystik’ mischt. Weisen wir zum Schluss darauf hin, dass unseres Wissens ein durchschnittlicher Nashist elf Wochen existierte.
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Nach den gegen die Münchener Situationisten geführten Rechtsverfahren, von denen wir in ‘S.I.’ No.7 sprachen, sind die vier, die inzwischen wegen ihrer Mäßigkeit in anderen Punkten aus der S.I. ausgeschlossen wurden, am 4.Mai zu 5 1/2 Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt worden. Das Berufungsgericht hat am Jahresende das Urteil zwar bestätigt, die Gefängniszeit aber reduziert - immer noch auf Bewährung. Zwei von ihnen, die zu Kryptonashisten geworden waren, hatten übrigens diese 2. Instanz als Gelegenheit benutzt, um am 4.November eine unglückliche Erklärung zu veröffentlichen. Indem sie die früheren Positionen ihrer Gruppenverteidigung umkehrt (sowie die von denen, die sich mit ihnen solidarisch erklärt hatten), akzeptiert diese Erklärung einen der Punkte der schwachsinnigen Anklage, der gemäß sie Pornographen sein sollten. In ihrer Ereiferung behaupten die Verfasser weiter, sie hätten ein Recht darauf, solche zu sein, und sie berufen sich dabei auf Aretino, Sade, Miller, Genet und die Klassiker. Was um so bestürzender ist, als es auf der Hand liegt, dass sie, sogar ohne so weit hergeholte Vergleiche ziehen zu wollen, streng genommen überhaupt nichts im betreffenden Genre sind.
Als einziger wurde der am 5.Juli verurteilte Uwe Lausen faktisch 3 Wochen lang in Haft gehalten. Nachdem sie bei der Gerichtsverhandlung am 4.Mai protestiert hatte, verbreitete die S.I. zwei Flugblätter - am 25.Juni über die gesamte Affäre und am 16.Juli über Lausens Verurteilung (”Das Unbehagen in der Kultur”).
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Den Lettrismus gibt es immer noch. Als letztes Ereignis hat sich der ewige Lemaitre selbst gespalten. Ähnlich wie Chestertons Held, ‘der gewisse Herr Sonntag’, organisiert er noch dazu seine eigene Opposition und führt heftige Diskussionen mit sich selbst in zwei vervielfältigten Blättchen, in denen knauserige Abrechnungen zur Schau gestellt werden (wer wem 400 alte Francs für die mühevolle Arbeit schuldet, ihre Werke in Briefumschläge gesteckt zu haben, und sich immer noch nötigen lässt usw.). Etwas Platz bleibt trotzdem immer noch übrig, um die S.I. anzugreifen, von der er abschätzt, sie habe genau ein Drittel ihres grundschlechten Programms verloren, als sie die Methode der Zweckentfremdung aufgegeben habe. Woher hat er seine Informationen? Ein um so unergründlicheres Geheimnis, als Lemaitre im selben Artikel betrübt zugibt, dass wir immer noch eifrig das Umherschweifen betreiben. Nun, G. Kellers Formel gemäß: “Unsere durch das Bild vom Galton-Apparat dargestellt Methode hat uns ermöglicht, die Zweckentfremdung als eine genaue Einzelheit des allgemeinen Umherschweifverfahrens ins Auge zu fassen. Es handelt sich in diesem Fall nicht um eine Reduzierung, sondern um eine Aufhebung, da es kein Umherschweifen ohne zahlreiche Zweckentfremdungen geben kann. Die Zweckentfremdung selbst ist gemäß den beiden, im Laufe des Umherschweifens zu unterscheidenden Positionen teilbar, je nachdem, ob man auf eine passive oder aktive Opposition - Widerstand oder Gegenwirkung - gegen die Bewegung stößt. Die Zweckentfremdung ist die notwendige, zwangsläufig durch ein Hindernis hervorgerufene Wirkung. Dieses Hindernis mag psychischer oder physischer Art sein, der Augenblick aber der siegreichen Zweckentfremdung ist zwangsläufig der einer seltsamen, überraschenden Begegnung, die schon von Rimbaud definiert wurde. In der Geistesbewegung ist die Zweckentfremdung die unmittelbare Umkehrung einer Kette von normalen Assoziationen durch die vollständige Verlagerung des mit dem aufgezwungenen Gegenstand verbundenen, möglichen Begriffs (Unmöglichkeit einer genauen Identifikation); so macht es die Zweckentfremdung möglich, Texte wirklich zu lesen, deren Elementarverständnis uns durch den herrschenden Gebrauch untersagt wurde. Der Wirkungsbereich des Umherschweifens ist ein kompliziertes Ganzes bzw. ein Netz vielfach wirkender Zweckentfremdungen - egal, ob es sich dabei um ein Gedicht, Finnegan’s Wake, eine Stadt, eine Landschaft, ein Haus oder ein Labyrinth usw. handelt. Ein Umherschweifen ist nicht einmal möglich ohne ein Minimum an Zweckentfremdung der Trägheit, d.h. der geraden Bewegung (der geraden Linie). Das leuchtet so sehr ein, dass die Möglichkeit eines Umherschweifens ohne Zweckentfremdung wie reiner Unsinn betrachtet werden muss, der es nicht einmal verdient, diskutiert zu werden.”
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Anlässlich des Todes von Marilyn Monroe hat Goldmann einen Artikel in der Zeitschrift ‘France Observateur’ vom 6. September 1962 geschrieben, der weit besser ist als das, was er sich seit einiger Zeit über die kulturelle Auflösung zu schreiben angewöhnt hatte. Die Begriffe, die er 1961 als einfache Hypothesen vorgebracht hatte (siehe die Kritik in ‘ S.I.’ No.7), behauptet er jetzt als feststehende Gewissheiten, auf die seine Beweisführung begründet wird. Die Thematik der Abwesenheit und der Zerstörung des Gegenstandes in der Kunst verbindet er jetzt ausdrücklich mit der parzellierten Arbeit und dem Konsum einer passiven Freizeit. Er behauptet sogar, dass die Entstehung einer anderen Kultur durch die freie Herrschaft der Menschen über die Anwendung ihrer Arbeit bedingt wird, die die einzige Alternative zur verdinglichten Gesellschaft der Ausführenden und der Konditionierung des Komforts bildet. Sie ist das Ergebnis eines verstärkten Forschungsrhythmus oder einer glücklich ausgefüllten Lücke in seiner Belesenheit, wir verstehen ihn jetzt jedenfalls viel besser.
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Nach den von ihm für notwendig gehaltenen Verboten und Verhaftungen hat Ben Bella Anfang Januar in einem Gespräch mit dem Korrespondenten der Presseagentur Italiens eine einstimmige Abstimmung der algerischen verfassungsgebenden Versammlung, deren Mitglieder er alle selbst ernannt hat, als Argument benutzt, um folgenden Schluss daraus zu ziehen: “Es gibt keine Opposition in Algerien oder zumindest gibt es keine mehr.” Da niemand jedoch ein solcher Ideologe ist, als das er glaubt, es seien im unabhängig gewordenen Algerien die Abschaffung der Klassen, der Überfluss, die Autonomie der Massen und durchsichtige menschliche Beziehungen durch Notverordnungen verwirklicht worden, muss man schließen, dass die algerische Revolution auf Eis gelegt wurde - vielleicht sogar für eine lange Zeit.
Die revolutionären Massen Algeriens, die so sehr gekämpft haben, haben alle ihnen bekannten, fürchterlichen Feinde besiegt. Dagegen wurden sie selbst von den ungewissen gegnerischen Kräften leicht besiegt, die sie nicht erwartet hatten und denen sie vollkommen unvorbereitet entgegentreten mussten. Die FNL-Führung hatte zwar seit langem einen ideologischen Einheitsterrorismus organisiert, hinter dem an der Spitze Gruppen mit ungreifbaren Motiven aneinandergerieten. Diese Unterentwicklung des ausdrücklichen Projektes der Revolution, ohne das der Mut zum unmittelbaren Kampf, der in sich selbst die Totalität der Hoffnung birgt, zu höchst enttäuschenden Siegen führt, wurde durch die äußerst harten Bedingungen und die lange Zeit gefördert, während der die Algerier den Kampf isoliert führen mussten. Fast kein Franzose hat den Algeriern geholfen, wenn damit nicht nur gemeint wird, die “FNL-Koffer zu tragen” (+), sondern den zum Verständnis der Hauptprobleme (derjenigen, die sich unvermeidlich mit der Niederlage der französischen Truppen und der rassistischen Minderheit stellen mussten) realistischen Teil der Kritik und der Theorie zu unterstützen. Im Gegenteil dazu hat diese für den gauchistischen Christen und den enttäuschten Stalinisten typische Neigung zur Billigung eines Apparates insgesamt, wenn auf die “algerische Partei” verwiesen wurde, eine ultra-frontistische Illusion gefördert, die sich heute vielleicht in der umgekehrten Übertreibung zerreißt: die Bestürzung und die Niedergeschlagenheit gegenüber so unerwarteten Ergebnissen.
Die einzigen unerwarteten Seiten in der Krise vom Sommer 1962 sind jedoch die übertriebene Schnelligkeit und Verwirrung der bewaffneten Cliquen gewesen, die sich gegenseitig bekämpften, um die Macht im Namen desselben - wenn auch sehr notdürftigen - Programms zu ergreifen und dann die Schwäche der spontanen Tendenz, die alle rivalisierenden Fraktionen zusammen abzuweisen versucht hat, indem sie sich dem bewaffneten Zusammenstoß widersetzte (Androhung eines Generalstreiks usw.).
Die Art und Weise, wie das Politbüro die Macht ergriff, hat dem Spiel im September ein Ende gesetzt. Ohne die Wirrköpfe der 4.Wilaya rechtfertigen zu wollen, die sich bei der Liquidierung der “autonomen Zone” Algeriens seltsam verhalten und nichts unternommen hatten, um eine Kraftprobe zu verschieben (sie haben sogar die Straße nach Algier gesperrt), deren Endergebnis nicht nur ihr schneller Zusammenbruch, sondern auch die unwiderrufliche Veränderung der ganzen algerischen Befreiungsbewegung war, haben die Kämpfe um Orleansville und Boghari bedeutet, dass von da an die Auseinandersetzungen im Lager der algerischen Revolution durch sichere Waffen entschieden werden können.
Mehr als die Enttäuschung der algerischen Militanten, die als Arbeiter nach Frankreich zurückkommen oder im Begriff sind, nach Angola zu gehen, um den antikolonialistischen Kampf dort weiterzuführen, mehr als die Zeichen einer Islamisierung in den Gesetzen bzw. den Vorschriften, mehr als die ersten Aufstände von Bauern, denen eine vorsichtige Agrarreform versprochen wird, und sogar mehr als die Art, wie sich Handlanger der Regierung offen des Gewerkschaftskongresses bemächtigt haben, enthüllt eine unserer Meinung nach besonders bedeutungsvolle Tatsache, wie sehr die Besitzergreifung der Gesellschaft der algerischen revolutionären Bewegung missglückt ist: am 2.Januar hat die algerische Presseagentur APS in ihrem ersten Bulletin bekanntgegeben, die Septemberkämpfe hätten “mehr als tausend Tote” gefordert. Zwei oder drei Tage später stellte dieselbe Agentur den diesbezüglichen “Irrtum” richtig, indem sie ungefähr zehn Tote aufzählte. Diese beiden aufeinanderfolgenden Zahlen genügen, um zu zeigen, dass von nun an ein moderner Staat in Algerien errichtet ist.
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Im Oktober 1962 hat das letzte Konzil der katholischen Kirche in Rom begonnen.
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Durch die Kubakrise sind zwei Behauptungen dieser Zeitschrift - im Artikel ‘Geopolitik der Schlaftherapie’, S.I. No.7, April 1962 - veranschaulicht worden. Das ist einerseits der gemeinsame russisch-amerikanische Entschluss, den thermonuklearen Krieg nie zu führen, indem sie sich aber “immer mehr ins Spektakel eines möglichen Krieges” steigern - zur Zeit werden in den USA zusätzliche Atomschutzbunker mit noch geringerem Schutzkoeffizient gebaut - und andererseits das Liquidierungsuntemehmen der kubanischen Revolution, das mit der neo-leninistischen ideologischen Wahl weit vorangetrieben wird. Haben die kubanischen Führer der ersten Entwicklungsphase gezeigt - siehe Castros Rede vom 26.März -, dass sie sich die Kontrolle über die Einheitspartei nicht leicht von hergesandten Bürokraten entreißen lassen wollten, so haben sie doch auch gezeigt, dass sie ihre Verteidigung blind den russischen Soldaten und Atomraketen anvertrauten. Nachdem Russland sie sich selbst überlassen hat, das es durch eine schlechte Berechnung der Welttheaterstrategie in diesem Punkt zum vollständigen Rückzug gezwungen wurde - das eine neue Periode des Gleichgewichts der Weltteilung einleitet -, und da die Kennedy-Verwaltung keine andere ’strategische’ Sorge hat als die politische Zerstörung des Castro-Regimes mit allen Mitteln, kann man sagen, dass das sehr gefährdete Schicksal der kubanischen Revolution allein in den Händen der Massen Lateinamerikas liegt. Allein diese potentielle Aufstandsdrohung schützt Kuba immer noch vor einer Landung der amerikanischen Armee und keine Garantie Chruschtschows oder irgendeines anderen. Alles hängt schließlich von dem Beispiel ab - welcher neuen Gesellschaft? -, das Kuba geben wird. In dieser Hinsicht muss gesagt werden, dass die Verbindung des autoritären Neo-Leninismus (obligatorisches Arbeitsbuch) und des wirtschaftlich-militärischen Drucks der amerikanischen Einkreisung zur Degradierung eines solchen Beispieles tendiert.
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Die VI. Konferenz der S.I. hat in Antwerpen unter ausgezeichneten Architektur- und Spielbedingungen vom 12. bis zum 16. November 1962 stattgefunden. Es wurden die gesamten Probleme der Radikalisierung der S.I. seit Göteborg erörtert: die situationistische Kohärenz - die genaue Definition unserer Beziehungen zu den uns gewogenen bzw. feindlichen (antinashistischer Kampf) äußeren Tendenzen - die Frage der Geheimhaltung und das unmittelbare Experimentieren.
Die Konferenz hat beschlossen, die S.I. zu reorganisieren; sie wird als ein einziges, vereinigtes Zentrum betrachtet, wobei die Teilungen in nationale Sektionen abgeschafft werden. Das Zentrum wird nicht mehr aus Delegierten lokaler Gruppen bestehen - solche Gruppen ermutigen wir, sobald sie sich bilden, außerhalb der S.I. autonom zu bleiben - sondern sich selbst für den globalen Vertreter der Interessen der neuen kritischen Theorie halten, ohne daraus irgendeine beherrschende Rolle über untergeordnete Kräfte folgern zu können (”Unser Mandat … haben wir nur von uns selbst bekommen.”). Die Mitglieder des letzten, in Antwerpen ernannten Zentralrats - der auch damit beauftragt wird, im kommenden Jahr diejenigen Kandidaten zu wählen, die als Teilnehmer an der S.I. akzeptiert sind, die in ihrer Totalität zu diesem Zentrum geworden ist (mit einer gleichen Ebene der theoretischen und praktischen Beteiligung aller) - sind: Michèle Bernstein, Debord, Kotányi, U. Lausen, J.V.Martin, Jan Strijbosch, A .Trocchi und Vaneigem.
Die praktische S.I.-Arbeit ist in Regionen aufgeteilt worden, die zusammengehörigen Komplexen aus kulturellen und sprachlichen Bedingungen entsprechen, und die Funktionen von Korrespondenten unseres Zentrums für diese Zonen einer Art Anti-NATO verteilen sich die Situationisten je nach ihrer Herkunft und geographischer Position. Die erste Region - Nordeuropa - umfasst die skandinavischen Länder und Island. Die zweite schließt die beiden Teile Deutschlands, Österreich und die Schweiz ein; sie soll noch dazu unsere Kontakte mit dem Osten weiterentwickeln. Die atlantische Region umfasst die britischen Inseln und die USA. Die vierte Region beschäftigt sich mit Frankreich, den drei Benelux-Ländern, Italien und (unauffällig) mit der Iberischen Halbinsel. Eine fünfte, rein potentielle Region - Afrika und Asien - dient dazu, all unsere zur Zeit in dieser Welthälfte verstreuten Verbindungen zusammenzubringen. Die IV.Region sorgt provisorisch für die Koordinierung dieser Verbindungen. So schnell wie möglich sollen die vier faktisch bestehenden S.I.-Regionen je eine Zeitschrift haben, während die Zeitschrift ‘Internationale Situationniste’ ab Nummer 9 dem situationistischen Ausdruck für die westeuropäische Region zugedacht wird.
Es wurde beschlossen, dass die VII. S.I.-Konferenz in Wien stattfinden wird.