Wie weit ist es mit der Kulturproduktion? Sie bestätigt all unsere Berechnungen, wenn man die Ereignisse der zwölf letzten Monate mit der seit einigen Jahren von der S.I. vorgelegten Analyse der Auflösung vergleicht. (vgl. “Die Abwesenheit und ihre Zurichter” in ‘Situationistische Internationale’ No.2, Dezember 1958). Letztes Jahr hat Max Aub ein dickes Buch über das Leben eines von ihm erfundenen kubistischen Malers namens Campalans in Mexiko geschrieben, wobei er sogar die Berechtigung seines Lobs anhand einiger Bilder bewies, deren Bedeutung sich sofort herausstellte. Im Januar arrangierte eine Münchner Malergruppe um Max Strade eine nach Herzenslust sentimentale Biographie sowie die gleichzeitige Ausstellung des Gesamtwerks eines jungen, frühzeitig gestorbenen und genauso erfundenen tachistischen Malers - Bolus Krim. Fernsehen und Presse, darunter fast alle deutschen Wochenzeitungen, schwärmen für dieses so spezifische Genie, bis die Mystifizierung öffentlich bekanntgemacht wird, was das Verlangen von Straffolgen gegen die Fälscher veranlasst. “Ich glaubte, schon alles gesehen zu haben…”, schreibt im November 1960 der Choreographie-Kritiker von ‘Paris-Presse’ über ‘Das Ende der Nacht’ des Deutschen Harry Kramer, “Ballett ohne Thema und Ballett ohne Kostüme, andere ohne Bühnenbild und schließlich solche ohne Musik und sogar welche, die all diese Elemente zugleich entbehrten. Nun - ich habe mich geirrt. Gestern abend habe ich das noch nie Gesehene, Unerwartete und Unvorstellbare gesehen: ein Ballett ohne Choreographie. Ich wiederhole: ohne den geringsten choreographischen Versuch, ein unbewegliches Ballett!” Im ‘Evening Standard’ vom 28.September desselben Jahres wird ein Maler aus Toronto, Jerry Brown, der Öffentlichkeit vorgestellt, der theoretisch und praktisch beweisen will, “dass es eigentlich keinen Unterschied zwischen Kunst und Müll gibt’”. In diesem Frühling wird in Paris eine neue Kunstgalerie eröffnet, die auf diese Ästhetik aus Toronto gegründet ist und den von neun ‘neurealistischen’ Schöpfern zusammengebrachten Müll ausstellt; obwohl diese dazu entschlossen waren, Dada zu wiederholen, aber “40 Grad höher”, haben sie doch den Irrtum begangen, die allzu deutliche Rechtfertigung eines schulmeisterlichen Vorworteschreibers zu schonen, der selbst weit unter Null Grad steht, da er nichts Besseres wusste, als sie “die Welt als ein Bild betrachten” zu lassen und sogar die Soziologie “dem Bewusstsein und dem Zufall zu Hilfe kommen ” ließ, um dann dumm “Ergriffenheit, Gefühl und schließlich noch einmal die Poesie” wiederzufinden. Jawohl. Glücklicherweise geht Nicki de Saint-Phalle mit ihren mit dem Karabiner gemalten Zielscheibenbildern weiter. Im Hof des Louvre stellt ein russischer Gallizio-Anhänger im Januar eine siebzig Meter lange bemalte Rolle her, die stückweise verkauft werden kann. Dank Mathieus Lehren macht er die Sache etwas gepfefferter, indem er nur 25 Minuten und seine Füße dazu verwendet.
Antonioni, dessen neuste Beliebtheit jeden Tag bestätigt wird, erklärt im Oktober 1960 der Zeitschrift ‘Kino 60′: “In den letzten Jahren haben wir die Gefühle womöglich bis zur Erschöpfung beobachtet und erforscht. Das ist alles, was wir machen konnten… Uns gelang es aber nicht, neue zu erfinden, es stellte sich sogar nicht einmal eine Lösung dieses Problems in Aussicht… Ich würde vor allem sagen, dass wir von einer negativen Tatsache ausgehen - und zwar von der Erschöpfung der gebräuchlichen Techniken und Mittel”. Sucht man nach neuen kulturellen Mitteln und neuen Formen der Teilnahme? Seit März werden jetzt in den Gängen der New Yorker U-Bahn spezielle Plakate angebracht, die nur dazu bestimmt sind, von den Zerstörungslustigen beschmiert zu werden. Andererseits bieten uns mindestens seit diesem Sommer die Gangster der Elektronik einen 52 Meter hohen, räumlich-dynamischen Turm für die ‘Form- und Lichtspiele’ des gewöhnlichen Nicolas Schoeffer in Lüttich an; dieser wird diesmal über “70 Lichtmischgeräte” verfügen, um abstrakte, farbige Fresken auf eine 1500 Quadratmeter riesige Leinwand bei passender Musik zu projizieren. Wird sich diese schöne Anstrengung “in das Stadtleben” eingliedern, wie er es hofft? Das wird man erst bei der nächsten Streikwelle in Belgien abschätzen können, da dieser Schoeffer-Turm noch nicht vorhanden war, als die Arbeiter von Lüttich das letzte Mal die Gelegenheit hatten sich auszudrücken - und die Anlagen der Zeitung ‘La Meuse’ zerstört haben.
Tinguély hatte eine bessere Eingebung, als er im New Yorker Museum der Modernen Kunst zeigte, wie eine zu diesem Zweck von ihm mit Sachkenntnis zusammengestellte Maschine sich selbst zerstörte. Ein Amerikaner aber, Richard Grosser, hatte schon vor mehreren Jahren das Modell einer “nutzlosen Maschine” ausgearbeitet, die streng genommen zu gar nichts dienen konnte. In dieser Maschine im Kleinformat aus Aluminium sind Neonröhren zu sehen, die aufs Geratewohl an- und ausgehen.” Mehr als 500 davon hat Grosser verkauft - eine angeblich an John Foster Dulles.
Auch wenn all diese Erfinder etwas Humor haben, sind sie doch sehr aufgeregt und sehen so aus, als ob sie die Zerstörung der Kunst, die Reduzierung einer ganzen Kultur auf Klangimitation und Stillschweigen wie ein unbekanntes Phänomen und eine neue, nur auf sie wartende Idee entdecken würden. Alle töten aufs neue Leichnahme, die sie aus einem Kulturniemandsland ausgraben, dessen Jenseits sie sich nicht vorstellen können. Nichtsdestoweniger sind gerade sie die heutigen Künstler, ohne zu sehen, wie. Sie drücken unsere Zeit als die des feierlich neu behaupteten alten Zeugs richtig aus - diese Zeit der geplanten Inkohärenz; der durch die Mittel der Massenmedien besorgten Isolierung und Taubheit; der Lehre von höheren Formen des Analphabetismus durch die Universitäten; der wissenschaftlich garantierten Lüge und der der herrschenden Geistesschwäche zur Verfügung stehenden, entscheidenden technischen Macht. Die von ihnen unverständlich wiedergegebene, unverständliche Geschichte ist ja dieses so possenhafte wie blutige Weltspektakel, in dessen Programm wir während eines ereignisreichen Halbjahres folgendes sehen konnten: wie Kennedy seine Polizisten gegen Kuba loslässt, um zu sehen, ob das bewaffnete Volk spontan für sie Partei ergreifen wird; wie die französischen Sturmdivisionen einen Putsch vorbereiten und vom Schlag einer Fernsehrede getroffen zusammenbrechen; wie de Gaulle zur Kanonenbootpolitik greift, um einen afrikanischen Hafen wieder für den europäischen Einfluss zugänglich zu machen und wie Chruschtschow gelassen ankündigt, dass er nach weiteren neunzehn Jahren den Kommunismus im wesentlichen verwirklicht haben wird. Dieser ganze alte Kram hält zusammen und all diese Lächerlichkeiten können unmöglich eine Rückkehr zu dieser oder jener Form des ‘Ernstes’ bzw. der edlen Harmonie der Vergangenheit überwunden werden. Diese Gesellschaft wird auf allen Ebenen immer peinlicher lächerlich werden - bis zum Augenblick ihres vollständigen revolutionären Wiederaufbaus.