“Die Entfremdung - was steckt eigentlich hinter diesem Schlüsselwort zu einer ganzen Politik, einer Kritik und einer Soziologie? J.M. Domenach führt den erstaunlichen Wandel dieses bedeutungsreichen Begriffs von Hegel bis Jaques Berque vor unsere Augen. Dann prüft er ihn auf seinen Inhalt. Seiner Meinung nach ist es an der Zeit, auf diesen ‘Krankenhaus-Begriff’ zu verzichten, in dem alle Krankheiten des Jahrhunderts angesammelt werden, und die Philosophie mit ins Spiel zu ziehen, die ihn ausgearbeitet hat.”
Dieser Notiz am Anfang der Zeitschrift ‘Esprit’ vom Dezember 1965 entspricht vollkommen die außerordentliche Unverschämtheit von Domenachs Artikel, der unter dem Titel ‘Um mit der Entfremdung Schluss zu machen’ diese Nummer eröffnet. Domenach, der Prinz des zeitgenössischen Konfusionismus in seiner wichtigen Provinz des gauchistischen Christentums, wirft dem Begriff der Entfremdung vor, konfus zu sein, missbraucht zu werden, eine starke historische Änderung erfahren zu haben und allzu viele “überholte und verschwommene” Formeln entstehen zu lassen. Wäre all das Verschwommene so überholt, hätte das religiöse Denken die rationalistische Aufklärung nicht überleben können, die die bürgerliche Gesellschaft mit in die Welt brachte. Es müssen also in einer materiell geteilten Gesellschaft die verschwommenen Gedanken und die undeutlichen Anwendungen genauer Begriffe für bestimmte Kräfte nützlich sein. Die Geschichte des Begriffs Entfremdung, wie Domenach sie uns auf einigen Seiten vor Augen führt, stellt gerade ein Modell dieses verschwommenen Denkens dar, das einem bestimmten Konfusionismus nützlich ist. Wie kann man im Ernst von Hegel zu Jaques Berque übergehen? Genau wie diese Literaturprofessoren zwischen den beiden Weltkriegen, deren Schulbücher die Entwicklung der französischen Lyrik von Baudelaire bis Moréas schilderten. So revanchieren sich die Philister provisorisch, die sofort für die unangenehme Pflicht bezahlt werden wollen, die Existenz von Hegel bzw. Baudelaire berücksichtigen zu müssen. Und Berque macht es Domenach möglich, tiefe Auffassungen dieser Art zu bewundern: “Der Kapitalismus wäre nur eine Verwandlung des anthropologischen Zusammenbruches, der sich etwa im XVIII. Jahrhundert in der europäischen Zivilisation ereignete”. Hier kommt die idealistische Unehrlichkeit auf zwei Ebenen zum Vorschein: was geschah in der europäischen Zivilisation etwa im XVIII. Jahrhundert anderes als gerade der Triumph des Kapitalismus? Außerdem, wie kann man das als einen ‘anthropologischen Zusammenbruch’ bezeichnen, was nie mehr als ein - übrigens unvollendeter - theologischer Zusammenbruch war? Die Art und Weise, wie Feuerbach in zwei Zeilen erledigt wird, der doch den entscheidenden Punkt in der Übertragung der Hegelschen Entfremdung auf die neue anthropologische und politische Kritik darstellt, unterliegt derselben Unehrlichkeit. Das von Domenach halb angenommene Denken von Berque ermöglicht ihm, auf folgende Inkonsequenz in Marx’ Denken hinzuweisen: für Marx war die Entfremdung mit der ‘Herstellerfunktion’ verbunden; nun “hat die Entfremdung solche Gruppen maximal getroffen, die keine Produzenten waren”. Auch wenn man diese merkwürdige Idee akzeptieren würde, bedeutet es nur folgendes: der Kapitalismus ist gerade die ökonomische Form, die die Herrschaft über die ganze Erde und deren Umgestaltung durch eine Zone nach sich zieht, die über eine bestimmte qualitative Produktionsschwelle hinaus gelangt. Das Vorhandensein dieser neuen ‘Herstellerfunktion’ in Europa schickte zuerst Kriegsflotten zur Erschließung Indiens und Chinas und dann Ethnologen, um das Testament der melanesischen Gesellschaften zu registrieren.
Das Endergebnis der Geschichte der Entfremdung will Domenach durch folgende aktuelle Feststellung kennzeichnen: “Es ist ein Krankenhaus-Begriff, in der für alle Krankheiten des Jahrhunderts ein Bett zur Verfügung steht. Hier tritt der Christ wieder deutlich hervor, der für immer das Leid akzeptiert hat und der möchte, dass nicht mehr davon gesprochen wird. Denn letzten Endes, wenn ein Arzt vom Standpunkt der praktischen Suche nach der Genesung aus von einer alle Krankheiten versammelnden Klinik spricht, so klingt es gar nicht nach dem verachtungsvollen Spott gegenüber einer Gemeinheit, der herablassenden Beleidigung der Kanzelberedsamkeit - er kennzeichnet damit ein bevorzugtes Experimentierfeld und definiert die Bedeutung dessen, was auf dem Spiel steht. Domenach will mit dem Begriff der Entfremdung nicht einmal fertig werden, wie der in der ‘Deutschen Ideologie’ erwähnte Philosoph, der die Menschen vom Gedanken der Schwere befreien wollte, damit keiner mehr ertrinkt. Domenach will von Entfremdung nichts mehr hören, weil es sich letztlich darum handeln soll, sich ihr zu fügen. Der Christ, der sich natürlich auf die stalinistische Orthodoxie bzw. den kybernetisierten ‘Marxismus’ eines Chatelet stützt (er erkennt sie um so lieber als Marxisten an, als seine Existenz als ‘Linksdenker’ selbst von einem solchen Marxismus abhängt), legt nach der Aufzählung einiger weniger ihrer Zusammenhanglosigkeit tatsächlich gut bei Chatelet gewählten Merkmale die Maske ab und gibt folgendes zu verstehen: “All diese ‘Entfremdungen’ scheinen wohl zu einem allgemeinen Wesen des Menschen zu gehören”. Zum Schluss seiner Rede fordert er dann jeden auf, “seine ursprüngliche Entfremdung” anzunehmen - also den Schöpfer. Wie du mir, so ich dir - er macht dem ökonomistisch-mechanistischen Marxismus, der gute Aussichten hat, von allen modernen Pfaffen akzeptiert zu werden, folgendes Geschenk: die aus dem Bewusstsein verbannte Entfremdung wird vorteilhaft durch den ‘genauen’ Begriff der Ausbeutung ersetzt. Obwohl die im Westen und im Osten allgemeine Entfremdung effektiv auf die Ausbeutung der Arbeiter gegründet ist, steht doch fest, dass die Entwicklung des modernen Kapitalismus und noch mehr die bürokratische Ideologie - es vollauf geschafft haben, die marxistischen Analysen der Ausbeutung auf der Ebene der freien Konkurrenz zu verschleiern und deren Anwendung nur ungenau zu erlauben. Dagegen haben aber diese parallel laufenden Entwicklungen die Entfremdung einen Begriff philosophischer Herkunft - in die Wirklichkeit jeder Stunde des alltäglichen Lebens eingeführt. Deshalb glaubt der Christ, es “sei an der Zeit”, noch einmal seine herkömmliche Rolle (”Ihr müsst Euch darein fügen! Es kommt von weit her! Es ist der Wille unseres Vaters!”) in der neuen Szenerie der Epoche zu übernehmen.
Gewiss müssen in einer Gesellschaft, die es nötig hat, eine Massensubkultur zu verbreiten und ihren spektakulären Pseudointellektuellen Gehör zu schaffen, normalerweise viele Ausdrücke sehr schnell allgemeinverständlich gemacht werden. Aus dem gleichen Grund aber neigen ganz einfache und aufklärende Worte zum Verschwinden - z.B. das Wort ‘Pfaffe’, so dass Domenach und seine Freunde sogar glauben können, keiner würde sich mehr an diese lästige Gemeinheit erinnern. Ebenso lächerlich sind die weltlichen Versuche eines Revel (’In Frankreich’), eine Liste zu verwerfender Worte aufzustellen, in der einige reine Modealbernheiten und wichtige von der Kritik beanstandete Ausdrücke zusammengebracht werden, da man nicht erhoffen kann, gleichzeitig die theoretischen Entdeckungen unserer Zeit und die aus ihnen entstandene, eigennützige Konfusion abzuschaffen, um auf irgendeinen kurzsichtigen Rationalismus ‘zurückzukommen’, der die ihm jetzt von den nostalgischen Liberalen zugeschriebene Wirksamkeit nie hatte. Allen diesen Wortschatzkillern mangelt es an Dialektik. So griff der gewöhnlich dem Purismus etwas weiter entfernte Robert Le Bidois vor kurzem in seiner Sprachchronik in ‘Le Monde’ die Redewendung ‘auf der Ebene’ an. Trotz der vielfachen unsinnigen Anwendungsbeispiele, die er anführen konnte, sollte man einsehen und annehmen, dass eine Gesellschaft, die die ökonomische Tiefe des heutigen Lebens bzw. das psychoanalytische Unbewusste kennt (auch wenn sie es sich unmöglich macht, ihre Kenntnisse kohärent zu benutzen), die gleichzeitig hierarchisierte Verwaltung all ihrer Sektoren erlebt (auch wenn sie das nicht ganz zugeben will), den Begriff der ‘Ebene’ in ihrem Sprachgebrauch anders benutzt als im bloßen, alten Sinn eines konkreten Maßes gegenüber dem Horizont oder als Synonym für die bildliche Redewendung: ’seiner Aufgabe gewachsen sein’).
Da diese Domenachs selbst die Diener des Kulturspektakels der Macht sind, die die brennendsten Ausdrücke des modernen kritischen Denkens schnell anwenden und zu ihrem Nutzen gebrauchen will, werden sie nie annehmen wollen, dass die wichtigsten und echtesten Begriffe der Epoche gerade daran gemessen werden, dass die größte Konfusion und der schlimmste Widersinn mit ihnen durchgeführt werden - so z.B. mit Entfremdung, Dialektik oder Kommunismus. Die lebenswichtigen Begriffe werden gleichzeitig mit dem wahrsten und dem trügerischsten Sinn und mit einer Vielzahl von Zwischenstufen der Konfusion gebraucht, da der Kampf der kritischen Wirklichkeit mit dem apologetischen Spektakel zu einem Kampf um Worte führt, der mit um so größerer Heftigkeit ausgefochten wird, je wichtiger diese Worte sind. Nicht durch autoritäre Säuberung, sondern durch den kohärenten Gebrauch in der Theorie und im praktischen Leben haben wir die Wahrheit eines Begriffs an den Tag gebracht. Es bedeutet z.B. nicht viel, dass ein Pfaffe darauf verzichtet, auf der Bühne einen Begriff zu gebrauchen, den er niemals hätte gebrauchen können. Vulgär gesagt, da wir es mit Pfaffen zu tun haben: die Entfremdung führt überallhin - vorausgesetzt, man gibt sie auf.