Unter den Vorbereitungsarbeiten zur Münchner Konferenz war der Entwurf einer “Inauguralerklärung der Dritten Konferenz der S.l. an die revolutionären Intellektuellen und Künstler” in Kopenhagen und Paris untersucht und den anderen in München erwarteten Teilnehmern zur Billigung vorgelegt worden. Der deutsch, englisch und französisch verfasste Text, der an demselben Tag veröffentlicht werden sollte, an dem die situationistische Konferenz tagen würde, lautete wie folgt: “Genossen, die Niederlagen der Revolution und das Weiterleben der formell aufgelösten herrschenden Kultur bedingen sich gegenseitig und die revolutionäre Aufhebung der bestehenden Verhältnisse hängt zunächst vom Erscheinen von Perspektiven über die Totalität ab.
Die Frage der Kultur - d.h. in letzter Konsequenz die der Organisation des Lebens, stoppt vor der Notwendigkeit eines qualitativen Bruchs, der vom Umsturz der jetzigen Gesellschaft untrennbar ist. Die materiellen Kräfte unserer Epoche und die Freizeit, die sie erzielen soll, ziehen die Neugestaltung des isolierten und dauerhaften Ausdrucks zu kollektiven und momentanen Aktionen nach sich, die unsere Umwelt und die Ereignisse unseres alltäglichen Lebens direkt konstruieren. Ein erneuter Fortschritt der Revolution ist mit der Bildung einer aufregenden Ersatzlösung in der unmittelbaren Lebensanwendung verbunden; sowie mit der Propaganda für diese Möglichkeiten und gegen die heutige Langeweile bzw. ihre Himmelfahrt zur mystifizierenden Vorstellung vom bürgerlichen Glück.
Die Kulturrevolutionäre sollen nicht neue Lehren, sondern neue Berufe finden. Wir wiesen auf den Weg des unitären Urbanismus, des Experimentalverhaltens und der Konstruktion erlebter Situationen als ein erstes Versuchsfeld hin. Eine breite gemeinsame Arbeit muss durchgesetzt werden, auf der Basis der blasierten Kritik des gesamten Wirkungsbereichs, in dem die herkömmliche Kultur am Ende ihrer Selbstzerstörung eingeschlossen ist, sowie das Bewusstsein von der tiefen Einheit aller revolutionären Aufgaben.
Die gesellschaftliche Basis für die Kulturrevolution ist unter den Künstlern schon vorhanden, die an der Grenze des möglichen Modernismus angelangt sind und sich damit nicht zufrieden geben können. Ihre Weiterentwicklung geht die ganze Welt an, deren kulturelle Vereinheitlichung im wesentlichen schon durch den Kapitalismus gemacht wurde.
Wir sind der Meinung, dass diesen Sprung in eine andere Lebenspraxis wollen, nicht heißt, fortgeschritten zu sein; es heißt kaum, in einer mit intellektuellen und moralischen Leichnamen vollgestopften Gegenwart zu leben zu versuchen.
Es ist an der Zeit einzusehen, dass die soziale Revolution ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit, sondern nur aus der Zukunft holen kann.”
Aus Amsterdam teilte jedoch Anfang April das Forschungsbüro für einen unitären Urbanismus mit, dass es mit diesem Text nicht einverstanden sei:
“Unsere Einwände sind folgende: die kulturellen Perspektiven bleiben ungenügend. Wir möchten die zentrale Position des unitären Urbanismus als Ausgangspunkt betonen, sowie die unmittelbare und praktische Tätigkeit auf diesem Gebiet als Alternative der jetzigen kulturellen Tätigkeit, die wir ablehnen.
Für uns hängen diese Perspektiven nicht von einem ‘revolutionären Umsturz der Gesellschaft’ ab, dessen Bedingungen nicht vorhanden sind. Die Abschaffung einer schweren materiellen Armut für die Arbeiterklasse scheint vielmehr auf eine langsame Entwicklung hinzudeuten… Die Intellektuellen lehnen sich gegen das kulturelle Elend auf: die Einheit mit einer nicht vorhandenen sozialen Revolution ist utopisch … Wir weisen jede romantisierte Konzeption einer vergangenen Wirklichkeit zurück. Die Revolte gegen die bestehenden Kulturverhältnisse - das hält die gegenwärtige Avantgarde zusammen.”
Am 4. April wandte sich Debord an die Mitglieder des Forschungsbüros, um den Text des Aufrufs nach dessen Modifizierung durch Frankin (vgl. die beiden weiter unten abgedruckten Thesen) zu verteidigen. Nachdem er die ungenügende Ausarbeitung des Projekts zugegeben hatte, das “unsere praktische Originalität stärker und klarer bezeichnet werden sollte, anstatt bei bekannten Prinzipien stehenzubleiben”, bemerkte er weiter:
“Die von Euch im zweiten Punkt vertretene Stellung ist nur reformistisch. Ohne hier eine Debatte über den Reformismus anzufangen, will ich euch nebenbei noch einmal sagen, dass ich den Kapitalismus für unfähig halte, seine Produktivkräfte ganz zu beherrschen und zu benutzen, die grundsätzliche Wirklichkeit der Ausbeutung abzuschaffen - unfähig also, vor den höheren, durch seine eigene materielle Entwicklung hervorgerufenen Lebensformen friedlich zu weichen … Die Perspektive der sozialen Revolution ist zwar all ihren klassischen Mustern gegenüber tief verändert worden - sie ist aber wirklich vorhanden. Im Gegensatz dazu seid Ihr selbst Utopisten, wenn ihr die fortschrittlichen Kräfte einzig in den ‘Intellektuellen’ finden wollt, ‘die sich gegen das kulturelle Elend auflehnen’ … Muss man sich nicht nach den Beziehungen einer solchen optimistisch-gemäßigten Ideologie mit der Praxis fragen, wie sie Architekten zukommt, die in einem Land mit hohem Lebensstandard arbeiten, in dem ein demokratisch-bürgerlicher Staat in den Urbanismus eingreift und eine reformistische Autorität über dessen natürliche Anarchie ausübt?
Ihr habt natürlich recht, zum Schluss daran zu erinnern, dass “die Revolte gegen die bestehenden Kulturverhältnisse die gegenwärtige Avantgarde zusammenhält” … Diese Revolte kann auf keine der künstlichen Trennungen der bürgerlichen Kultur innerhalb der Kultur selbst oder zwischen ihr und dem Leben Rücksicht nehmen - dann würden wir nicht wirklich eine Revolte brauchen. Der unitäre Urbanismus ist kein Konzept der Totalität und er soll es nicht werden. Er ist ein Werkzeug… Der U.U. hat eine ‘Mittelpunkt’-stellung inne, insofern er den Mittelpunkt der Konstruktion einer gesamten Umwelt darstellt. Weder durch diese theoretische Vorstellung noch durch deren Anwendung kann man denken, es ließe sich eine Lebensweise bestimmen und beherrschen. Das wäre eine Art von idealistischem Dogmatismus. Die kompliziertere und reichere Wirklichkeit umfasst alle Beziehungen dieser Lebensweisen und ihrer Szenerien. Das ist das Gebiet, das unserem heutigen Verlangen angemessen ist. Das ist das Gebiet, wo wir eingreifen müssen.”
In einer letzten Richtigstellung hob Constant besonders hervor, dass es auf Realismus und praktische Arbeit und nicht auf eine Wahl zwischen Reformismus und Revolution ankomme:
“Wir brauchen kein dogmatisches Revolutionskonzept, da dieses ‘all seinen klassischen Mustern gegenüber tief verändert worden ist’.
Wenn André Frankin feststellt, dass “das Proletariat Gefahr läuft zu verschwinden, ohne seine Revolution gemacht zu haben”, dann frage ich, warum man unsere Aktivitäten mit einer Revolution verbinden möchte, die Gefahr läuft, nie gemacht zu werden? Warum um jeden Preis die ‘Interaktion’ mit einer nicht vorhandenen sozialen Aktion? Freilich ist die Weltsituation in jeder Hinsicht revolutionär - in politischer, wissenschaftlicher und künstlerischer Hinsicht… So wie Frankin die Kulturrevolution als “die wesentliche Aufgabe des Jahrhunderts” betrachtet, so habe ich festgestellt, dass die heutige Revolution durch die Intellektuellen und Künstler gemacht wird… Die kollektive Schöpfung eines unitären Urbanismus beruht natürlich auf einem Totalitätskonzept. Wird das aber mit einer Tätigkeit verwechselt, die die Totalität mit einbezieht, geht man über seine wirklichen Möglichkeiten hinaus und wird zur völligen Untätigkeit verurteilt. Der Unitäre Urbanismus wird Mittelpunkt unserer Gedanken sein oder er wird nicht sein.”
Wegen der großen Divergenzen - vor allem über die Einschätzung einer Unterordnung oder dialektischen Verbindung von Kultur und Politik - und der unmittelbar bevorstehenden Münchner Konferenz wurde auf die vorherige Veröffentlichung des Aufrufs in dieser Form verzichtet. Diese Diskussion ist bedeutungsvoll, um die Probleme, die sich am Ausgangspunkt der situationistischen Aktion stellen, und die Richtung ihres eventuellen Fortschritts zu ermessen.