Die nächste Stufe

Welches ist das revolutionärste Moment von denen, die in der S.I. zur Erscheinung kommen? Das revolutionärste, d.h. zukunftsweisendste. Auf welcher Seite steht dann der bedenklichste Punkt? Um diese Frage zu beantworten, will ich das S.I.-Programm so analysieren, als ob ich mit einem Philosophen sprechen würde - ein kühnes, absurdes Unternehmen! Das bahnbrechendste Element sehe ich in der Tatsache, dass wir jetzt anfangen, die Sonderbarkeit unseres ‘Daseins auf dieser Welt’ und die Natur unseres Programms besser zu erkennen - die Folgen, die aus der Unvereinbarkeit unseres Programms als Ausdrucksmittel mit den verfügbaren Ausdrucks- und Aufnahmemitteln entstehen.

Was stört am meisten, was kann im ursprünglichen S.I.-Programm keinen ruhen lassen? Diese Frage mit philosophischen Begriffen beantworten zu wollen, ist bestimmt absurd. Da sich die gesamte gegenwärtige Philosophie innerhalb des Themas des ‘Verzichts auf die Philosophie’ entwickelt (vgl. die ‘Hamburger Thesen’), haben wir die Gelegenheit, damit irgendwie zu überraschen und alle Informationstheoretiker haben die Überraschung als Bedingung für die Übermittlung einer ‘gewissen Informationsquantität’ erkannt.

Von Anfang an war das situationistische Projekt ein revolutionäres Programm. Es war praktisch, quasi politisch, objektiv und setzte sich für die Umwandlung der Welt ein; es war noch mit der aktuellen, wirklichen - verdinglichenden, aber allgemeinen und inter-bürokratischen - Umwandlung verbunden. Auf der anderen Seite war dieses Programm auch inter-subjektiv und wurde durch die Begierde und all das erhalten, was im Leben eines jeden der Entfremdung radikal entgegensteht. Ein mit Durst gemischtes Getränk. Von Anfang an waren wir uns des Vorhandenseins einer Troika aus dem herrschenden Manager, dem Soziologen und dem Künstler bewusst, die dafür bezahlt wird, glauben zu lassen, dass die Begierden kanalisierbar oder die Energien dieser Begierden zu ‘Bedürfnissen’ umkehrbar seien, “ohne je Begierde gewesen zu sein”. Gleichfalls waren wir uns dessen bewusst, dass ein einmaliger historischer Glücksfall es den Herrschenden erlaubte, “die gesamten Werkzeuge” zu ihrem Zweck zu expropriieren, “durch die eine Gesellschaft sich selbst vorstellt und sich selbst zeigt.” Die Unterschätzung dieser Macht, die durch die verschiedensten Quellen und teilweise auch durch Unwissenheit erhalten wird, die durch dieselben “Informations”- und Spektakelkanäle verbreitet wird, vervielfacht ihre Wirksamkeit. Kurz: die Macht hat jetzt die Möglichkeit einer direkten Intervention in das System, wodurch ein Individuum mit sich selbst und mit den anderen in Verbindung steht (nun erkennen alle die Verantwortung aller in diesem System an - nur nicht die Macht).

Von Anfang an waren diese Elemente in der S.I. vorhanden. Dieser klassische Inhalt entsprach dem klassischen Kriterium von Marx gegenüber der revolutionären Theorie: den subjektiven Aspekt nicht von den Idealisten ausnutzen zu lassen.

Wir sind dabei, über diese klassische Stufe hinauszugehen. Sie wird in dem Maße klarer, wie die anderen Bewegungen - Surrealismus, Marxismus, Existentialismus usw. - die für sie zu heiße Kartoffel fallen lassen (man vergesse hier den Hegelianer, den Philosophen nicht, auch wenn er vergessen hat, dass seine Dialektik ursprünglich die des Subjektiven und des Objektiven war). Wie oben schon gesagt, sehe ich dieses Darüberhinausgehen in der Tatsache, dass wir jetzt anfangen, die Sonderbarkeit unseres ‘Daseins auf dieser Welt’ und die Folgen BESSER ZU ERKENNEN, die aus der Unvereinbarkeit unseres Programms als Ausdrucksmittel mit den verfügbaren Ausdrucksmitteln entstehen. Hinzuzufügen ist, dass es sich nicht nur um ‘unser Programm’ handelt, sondern dass jeder zwangsläufig in diesem nach Lefebvre “unendlich komplizierten Konflikt zwischen der Entfremdung und dem Kampf gegen die Entfremdung” am situationistischen Programm, sei er dafür oder dagegen, beteiligt ist.

Seit dem Beginn der Diskussionen über die Folgerungen aus dem situationistischen Programm sind ihm entsprechende Forderungen gestellt, sowie Konstruktionen vorgeschlagen worden. Eine Reihe von Beispielen dafür lässt sich in den veröffentlichten Texten finden. Trotzdem hat man sich nur auf eine zufällige Art an dieses Problem herangemacht, wobei die Legitimität der momentanen Utopie besonders betont wurde, sowie der revolutionäre Wert solcher Forderungen, die Notwendigkeit, materielle Mittel zu haben oder ganz im Gegenteil die Notwendigkeit, bei einer primitiven Entwicklungsstufe “unsere Ideen mit genügender Schärfe gemeinsam auszudenken (vgl. ‘Situationistische Internationale’ No.2).

Meiner Meinung nach waren diese Bemerkungen, obwohl sie nicht ohne ein bestimmtes Unbehagen gemacht wurden, vollkommen richtig. Und doch sehe ich genau dort den bereits vollzogenen Fortschritt gegenüber der ersten Stufe unseres Programms, sowie die Möglichkeit für eine große zukünftige Entwicklung.

Attila KOTANYI