Die Dritte Konferenz der Situationistischen Internationale fand vom 17. bis 20. April 1959 - 15 Monate nach der Zweiten Konferenz in Paris (Januar 1958) - in München statt. Situationisten aus Deutschland, Belgien, Dänemark, Frankreich, Holland und Italien waren dort vertreten durch: Armando, Constant, G.-E. Debord, Ervin Eisch, Heinz Höfl, Asger Jorn, Giors Melanotte, Har Oudejans, Pinot-Gallizio, Heimrad Prem, Gretel Stadler, Helmut Sturm, Maurice Wyckaert, Hans-Peter Zimmer.
Die erste Arbeitssitzung am 18. April fängt mit dem Bericht Constants über den unitären Urbanismus an. Die folgende Diskussion umfasst alle Aspekte der gemeinsamen Tätigkeit der Situationisten. Prem stellt verschiedene Fragen über die Abhängigkeit der individuellen Forschung von der Disziplin der Bewegung und dann über die Definition einer konstruierten Situation selbst und deren Verbindung mit der globalen Wirklichkeit. In seiner Antwort legt Jorn drei Anfangsmöglichkeiten dar, die Konstruktion einer Situation zu betrachten - “als einen utopischen Raum; als eine isolierte Umweltumgebung, durch die man hindurchgehen kann; oder als eine Reihe vielfältiger Umweltumgebungen, die mit dem Leben verquickt sind.” Alle Teilnehmer weisen die erste Möglichkeit gleich zurück und geben der dritten den Vorzug. Armando stellt die Frage der revolutionären Rolle des Proletariats heute.
Dann bittet die italienische Delegation um genauere Angaben über das konkrete Programm des “Forschungsbüros für einen unitären Urbanismus”; macht sich über die Autonomie Gedanken, die ihm innerhalb der Bewegung zuteil werden kann, sowie darüber, dass es sich dabei der Gefahr aussetzt, sich besorgniserregend zu spezialisieren.
Melanotte fragt danach, “wie die Bedeutung eines Werkes eingeschätzt werden soll und ob man nicht in der Entwicklung eines Werkes Situationist sein kann, das sich nicht auf den unitären Urbanismus bezieht.” Er macht darauf aufmerksam, dass ein gewisses Verhalten, da der Begriff des unitären Urbanismus das Verhalten mit einschließt, dazu führen kann, Situationist zu sein, ohne etwas geschaffen zu haben. Constant antwortet, es stehe der Gesamtheit der S.I. zu, Richtlinien für den unitären Urbanismus zu erteilen, gegenüber denen kein Situationist gleichgültig sein könne. Die Aktivität des “Forschungsbüros für den U.U.”, sowie die des Experimentallaboratoriums in Alba hänge von der situationistischen Bewegung ab; keines dieser Organe könne für die S.l. verbindlich sein, sondern gerade umgekehrt.
Die zweite Sitzung wird mit Zimmers Bericht eröffnet über die Bedingungen unserer Aktion in Deutschland und die Geschichte der neuen Tendenz der deutschen Avantgarde seit 1957 (der Gruppe ‘Spur’), die sich der S.I. jetzt angeschlossen hat. Zimmer und seine Genossen, von ihrer Opposition gegen die modernistische Eintönigkeit ausschließlich auf dem Gebiet der Malerei ausgehend (wobei sie den erst vor kurzem eingeführten Tachismus bald miteinbezogen), wollten auf ein totales gesellschaftliche bzw. politische Aspekte einschließendes Kunstwerk hinarbeiten - Zimmer bezieht sich hier auf die Architektur des Königs Ludwig II. von Bayern, die mit der Wagnerschen Oper verwandt ist. So erkannten sie, dass “sie andere, noch unausgedrückte und von denen der deutschen Kunst unterschiedene Ziele hatten”. In dieser Suche nach einer Gesamtkunst wurden sie durch ihre Verbindung mit den Situationisten verstärkt, sowie durch den vielen Staub, der Anfang des Jahres durch ihren Angriff gegen den Philosophen Bense in Deutschland aufgewirbelt wurde. Bense haben sie wegen seiner großen Anhängerzahl als Zielscheibe gewählt für das, was sie als eine “Philosophie der Nachkriegszeit: mitten in den Ruinen” bezeichnen. Der von ihnen geforderten kollektiven Aktion widersetzt sich Benses antikreativer Kollektivismus, der darauf hinzielt, “den Konstruktivismus haargenau fortzusetzen”. ‘Kunstwerk’, ‘Zero’ und ‘Kunst Schönehaus’ sind die Zeitschriften, die diese in Deutschland vorherrschende, reaktionäre Position besonders vertreten.
Jorn erwidert, indem er auf die Beziehungen zwischen dem Original und der Vervielfältigung hinweist. Debord spricht sich zu dem durch Zimmers Bericht ausgedrückten Willen zum Extremismus beifällig aus. Er weist nachdrücklich auf die Notwendigkeit und die Schwierigkeiten seiner konkreten Verwirklichung hin und warnt unsere deutschen Genossen vor der Einführung künstlicher, anderswo schon abgenutzter Neuigkeiten in ihr Land. Diesen regelmäßigen Mechanismus des Pseudomodernismus zu vereiteln, sei gerade die erste Aufgabe einer avantgardistischen internationalen Organisation zu einer Zeit, in der die Kultur nur als Welteinheit betrachtet werden kann.
Im Namen der holländischen Delegation greift Oudejans in die Debatte ein, um daran zu erinnern, dass die Rationalisierung benutzt werden könne und solle. Sie bilde die Grundlage für höhere Konstruktionen. Sie zurückzuweisen, hieße, die ohnmächtigen Träume der Vergangenheit zu wählen. Sturm kritisiert lebhaft das, was er für den Pragmatismus von Oudejans Position hält, während Constant dagegen ihren dialektischen Sinn unterstreicht. Pinot-Gallizio und Jorn kommentieren dann einige Punkte davon.
Nach einer Pause fängt die Sitzung mit der Diskussion über die 11 Punkte der Amsterdamer Erklärung wieder an, die der Konferenz als Vorschlag eines minimalen Programms für die S.I. vorgelegt worden war. Nach einer längeren Debatte wird die Erklärung von den Teilnehmern einstimmig gebilligt, nachdem die Punkte 1, 3, 9 und 11 durch Verbesserungsvorschläge leicht modifiziert worden waren (vergl. die DOKUMENTE, veröffentlicht nach diesem Bericht).
Die Sitzung vom 20.April befasst sich mit den praktischen Organisationsentschlüssen. Die Konferenz billigt die Manifestationen der Bewegung seit der Pariser Konferenz - und vor allem die der italienischen Sektion, deren Aktionen anlässlich der ‘Guglielmi-Affäre’ die ästhetische Empörung der einzigen Freiheitsfeinde hervorgerufen haben. Sie stellt die Quasi-Auflösung der Aktivität der S.I.-Gruppe in Frankreich fest, die sie durch die Bedingungen des überwältigenden Konformismus militärischer und polizeilicher Herkunft erklärt, der das neue Regime dieses Landes von nun an beherrscht, sowie durch die lange Dauer des kolonialistischen Algerienkrieges, der die französische Jugend entweder konditioniert oder gebrochen hat: von nun an kann Paris nicht mehr als Zentrum der modernen Kulturexperimente betrachtet werden. Dagegen freut sich die Konferenz über die Fortschritte der S.I. in Deutschland und in Holland. Sie erwägt, die Vierte Konferenz in England abzuhalten, um die dort zum Vorschein kommenden situationistischen Möglichkeiten zu entwickeln.
Das Redaktionskomitee der ‘Internationale Situationniste’, Zentralbulletin der S.I., wird erweitert. Das ehemalige Komitee wird erhalten und durch Constant (Holland) und Helmut Sturm (Deutschland) ergänzt. Wyckaert schlägt vor, ‘Potlatch’ als internes S.I.-Organ wieder herauszugeben. Die Konferenz billigt den Vorschlag, dessen Verwirklichung der holländischen Sektion anvertraut wird. Eine deutsche Ausgabe der ‘Internationale Situationniste’ unter der Leitung von Heinz Höfl wird im Prinzip bis zum Jahresende beschlossen.
Die Konferenz billigt den Übergangsbeschluß über eine ‘Anwesenheit der Situationisten in der heutigen Kunst’, in der sie die äußerste Experimentalinflation entfesseln sollen, wobei diese mit der von uns in der Zukunft entdeckten konstruktiven Perspektiven unaufhörlich verbunden bleibt. Es handelt sich darum, in der Kultur effektiv in Aktion zu treten, indem man von ihrer gegenwärtigen Wirklichkeit ausgeht. Die vorigen Bestimmungen auflockernd, stellt die Konferenz den S.I.-Mitgliedern frei, unsere Ideen in von uns nicht kontrollierten Zeitungen und Zeitschriften zu verstärken, unter dem einzigen Vorbehalt, dass diese nicht als reaktionär, auf welchem Gebiet es auch sein mag, bekannt sein dürfen und dass unsere Genossen jeden Zweifel darüber beseitigen, dass sie den für diese Publikationen verantwortlichen Redaktionen nicht angehören.
Eine letzte Diskussion über die Aktualität und die rein situationistischen Projekte wird durch Melanottes Richtigstellung beendet: “Nichts von dem, was wir tun, ist situationistisch. Erst der unitäre Urbanismus, wenn er einmal verwirklicht wird, fängt an, situationistisch zu sein”.
Mit Ansprachen von Pinot-Gallizio, Jorn, Constant und Oudejans werden die Arbeiten der Konferenz beendet. Gleich danach wird ein für diese Gelegenheit von Pinot-Gallizio hergestellter “Experimentalalkohol” verteilt, auf den die klassischen Getränke bis tief in die Nacht hinein folgen.
Am frühen 21.April wird das Flugblatt “Ein kultureller Putsch während Ihr schlaft!” in München verteilt, während die Situationisten schon anfangen, die Stadt zu verlassen.