Im August 1956 machte ein Flugblatt, das von den die Gründung der S.I. vorbereitenden Gruppen unterzeichnet wurde und den Boykott der damals in Marseille einberufenen “Festspiele der Avantgardekunst” forderte, darauf aufmerksam, dass es sich dabei um die vollständigste offizielle Auswahl dessen handelte, “was in zwanzig Jahren die Schwachsinnigkeit der fünfziger Jahre repräsentieren wird.”
Die moderne Kunst dieser Periode wird tatsächlich durch verkappte Wiederholungen beherrscht und sogar fast ausschließlich durch eine Stagnation gebildet, die die endgültige Erschöpfung des gesamten alten kulturellen Operationsbereichs aufzeigt, und die Unfähigkeit, nach einem neuen zu suchen. Dennoch haben sich gleichzeitig im Untergrund gewisse Kräfte gebildet: so z.B. die Auffassung eines unitären Urbanismus, die schon 1953 erschien und zum ersten Mal Ende 1956 in einem Flugblatt erwähnt wurde, das anlässlich einer Demonstration unserer italienischen Genossen in Turin verteilt wurde. (”Dunkle, obskure Worte”, schrieb am 11. Dezember ‘La Nuova Stampa’, wie z.B. diese Warnung: “Die Zukunft euer Kinder hängt davon ab - demonstriert für den unitären Urbanismus!”) Der unitäre Urbanismus steht im Mittelpunkt der S.I.-Gedanken und, welche Verzögerung bzw. Schwierigkeiten in der Anwendung es auch geben mag, der Eröffnungsbericht der Münchner Konferenz stellt sehr richtig fest, der unitäre Urbanismus habe mit seiner Erscheinung auf der Forschungs- und Projektebene schon begonnen.
In einigen Tagen sind die fünfziger Jahre zuende. Ohne zu versuchen vorauszusehen, ob deren Schwachsinnigkeit auf dem Gebiet der Kunst und der Lebensanwendung, die von allgemeineren Ursachen herrührt, unmittelbar besser oder schlimmer werden kann, ist es doch an der Zeit zu prüfen, wie weit der U.U. nach seiner ersten Entwicklungsstufe fortgeschritten ist. Dabei sollten wir mehrere Punkte genauer bestimmen.
Zuerst ist der unitäre Urbanismus keine Urbanismuslehre, sondern eine Kritik des Urbanismus. Unsere Tätigkeit in der Experimentalkunst ist gleichfalls eine Kritik der Kunst und die soziologische Forschung soll eine Kritik der Soziologie sein. Keine getrennte Lehre kann als solche akzeptiert werden, wir gehen einer globalen Neuschöpfung der Existenz entgegen.
Der unitäre Urbanismus unterscheidet sich von den Wohnungsproblemen, obwohl er dazu bestimmt ist, sie einzuschließen, und aus um so besseren Gründen von den jetzigen allgemeinen Handelsbeziehungen. Er plant zur Zeit ein Experimentierfeld für den SOZIALEN RAUM der zukünftigen Städte. Er stellt keinen Rückschlag gegen den Funktionalismus dar, sondern dessen Aufhebung; es handelt sich darum, eine aufregende funktionelle Umwelt über das unmittelbar Utilitaristische hinaus zu erreichen. Der Funktionalismus, der immer noch avantgardistisch zu sein vorgibt, weil er auf den Widerstand gewisser Vergangenheitsbesessener stößt, hat bereits reichlich gesiegt. Seine positiven Ergebnisse - die Anpassung an praktische Funktionen, die technische Neuerung, der Komfort, die Abschaffung des überflüssigen Schmucks - sind heute Banalitäten. Trotz seines alles in allem engen Anwendungsbereichs führt er sich aber auf theoretischem Gebiet nicht gerade bescheiden auf. Um die Ausdehnung seiner Erneuerungsgrundsätze bis auf die gesamte Organisation des gesellschaftlichen Lebens philosophisch zu rechtfertigen, hat sich der Funktionalismus gedankenlos mit den bewegungslosesten konservativen Lehren vereinigt, wobei er selbst zu einer bewegungslosen Lehre erstarrte. Man muss unbewohnbare Umgebungen bauen; die Straßen des wirklichen Lebens, die Szenerie für einen Wachtraum bauen. Durch die Frage des Kirchenbaus wird ein besonders auffälliger Wertmesser aufgestellt. Die funktionalistischen Architekten akzeptieren gern, Kirchen zu bauen, da sie meinen - falls sie keine deistischen Idioten sind -, dass die Kirche als funktionsloses Gebäude in einem funktionalen Urbanismus wie eine freie Übung mit plastischen Formen behandelt werden könne. Irrtümlicherweise vernachlässigen sie dabei die psycho-funktionale Wirklichkeit der Kirche. Die den technischen Utilitarismus einer Epoche ausdrückenden Funktionalisten können keine einzige Kirche mir Erfolg bauen - in dem Sinne, in dem die Kathedrale der einheitliche Erfolg einer Gesellschaft war, die doch primitiv genannt werden muss, da sie viel tiefer als wir in der elenden Vorgeschichte der Menschheit stand. Indem die situationistischen Architekten dagegen versuchen, selbst zur Zeit der Technik, die den Funktionalismus möglich gemacht hat, neue sowohl von der Banalität als auch von all den alten Tabus befreite Verhaltensrahmen zu schaffen, sind sie dem Aufbau und sogar der Erhaltung der religiösen Gebäude, mit denen sie sich direkt in Konkurrenz befinden, absolut entgegengesetzt. Der unitäre Utbanismus schließt sich den Interessen einer gesamten Subversion objektiv an.
Genauso wie vom Wohnen unterscheidet sich der unitäre Urbanismus von den ästhetischen Problemen. Er wiedersetzt sich dem passiven Spektakel, dem Grundsatz unserer Kultur, in der sich die Organisation des Spektakels um so skandalöser erweitert, als die Mittel der menschlichen Intervention zunehmen. Während die Städte selbst wie ein elendes Spektakel, eine Ergänzung zu den Museen, den in Glasbussen herumgefahrenen Touristen feilgeboten werden, betrachtet der U.U. die städtische Umwelt als ein Gelände für Spiele der Beteiligung.
Der unitäre Urbanismus ist vom jetzigen Stadtgelände nicht ideel getrennt. Er entsteht aus der Erfahrung dieses Geländes und den vorhandenen Bauten. Wir müssen sowohl die heutigen Szenerien ausnutzen durch die Behauptung eines spielerischen städtischen Raumes, wie ihn das Umherschweifen erkennen lässt, als auch neue, noch nie dagewesene aufbauen. Diese gegenseitige Durchdringung - Gebrauch der gegenwärtigen und Aufbau der zukünftigen Stadt - impliziert die Praxis der Zweckentfremdung in der Architektur.
Der unitäre Urbanismus steht der Festlegung der Städte in der Zeit entgegen. Im Gegenteil führt er dazu, die permanente Umänderung und eine beschleunigte Bewegung des Verlassens und des Wiederaufbaus der Stadt in der Zeit und sogar gelegentlich im Raum zu befürworten. So konnte man die Ausnutzung der klimatischen Verhältnisse ins Auge fassen, in denen sich schon zwei große Architekturzivilisationen entwickelt haben - in Kambodscha und im Südosten Mexikos -, um bewegliche Städte im Urwald zu bauen. In einer solchen Stadt könnten die neuen Viertel immer weiter in den nach Bedarf erschlossenen Westen gebaut werden, während man gleich große Gebiete im Osten der Verwilderung durch die überwuchernde tropische Pflanzenwelt preisgeben würde, die selbst die Zonen eines stufenweisen Übergangs von der modernen Stadt zur wilden Natur schaffen würde. Diese durch den Wald verfolgte Stadt würde außer der unvergleichlichen sich hinter ihr bildenden Zone zum Umherschweifen und einer kühneren Verbindung mit der Natur als die der Versuche Frank Lloyd Wrights noch den Vorteil einer Inszenierung des Zeitvergehens in einem sozialen Raum anbieten, der sich ständig schöpferisch erneuern muss.
Der unitäre Urbanismus ist gegen die Bindung der Personen an bestimmte Punkte. Er ist das Fundament einer Zivilisation der Freizeit und des Spiels. Zu beachten ist, wie die Technik in den Fesseln des jetzigen ökonomischen Systems dazu benutzt wurde, die Pseudospiele der Passivität und der gesellschaftlichen Zersplitterung zu vervielfältigen (Fernsehen), während die neuen, gleichfalls ermöglichten Formen der spielerischen Beteiligung durch alle möglichen polizeilichen Verordnungen geregelt werden - so z.B. die Rundfunkamateure, die sich auf eine technische Pfadfinderarbeit beschränken müssen.
Da das situationistische Experiment des Umherschweifens gleichzeitig ein Mittel zur Erforschung der städtischen Umwelt und ein Spiel mit ihr ist, führt es zum unitären Urbanismus. Die Theorie auf dem Gebiet des U.U. von der Praxis nicht trennen wollen - das heißt nicht nur die Konstruktion (bzw. die Forschung auf diesem Gebiet, wie z.B. die Entwürfe) zusammen mit dem theoretischen Denken voranzutreiben, sondern vor allem den unmittelbaren, kollektiv empfundenen spielerischen Gebrauch der Stadt vom Urbanismus als einer Konstruktion nicht zu trennen. Die wirklichen Spiele und Emotionen in den heutigen Städten sind von den Projekten des U.U. nicht zu trennen, wie die späteren Realisierungen des U.U. von Spielen und Emotionen nicht getrennt werden dürfen, die bei dieser Vollziehung entstehen. Die Experimente des Umherschweifens, die im Frühling 1960 von der S.l. in Amsterdam mit größeren Transport- und Fernverkehrsmitteln unternommen werden sollen, fassen wir sowohl als eine objektive Stadtforschung als auch als ein Kommunikationsspiel auf. Außer seinen wesentlichen Lehren ermöglicht das Umherschweifen nur eine sehr genau datierte Kenntnis. In einigen Jahren genügen der Bau bzw. das Niederreißen von Häusern und die Verlagerung von Mikrogesellschaften und Gebräuchen, um das Netz der oberflächlichen Attraktionen einer Stadt zu verändern - was übrigens eine sehr ermutigende Feststellung für einen Augenblick ist, in dem es uns gelingt, eine aktive Verbindung zwischen dem Umherschweifen und dem situationistischen Städtebau herzustellen. Bis dahin wird sich die städtische Umwelt sicher von selbst und anarchisch ändern, so dass die Umherschweifexperimente, deren Ergebnisse nicht zur bewussten Änderung dieser Umwelt geführt werden konnten, schließlich veraltet sind. Die erste Lehre des Umherschweifens aber ist, dass seine eigene Existenz auf dem Spiel steht.
Wir stehen nur am Anfang der städtischen Zivilisation - wir müssen sie erst noch selbst schaffen, wenn auch von bestehenden Bedingungen ausgehend. All die von uns erlebten Geschichten, das Umherschweifen unseres Lebens, sind durch die Suche nach einer höheren Konstruktion - bzw. deren Mangel - gekennzeichnet. Die Umgebungsveränderung lässt neue Gefühlszustände hervortreten, die zuerst passiv empfunden werden, bevor sie sich bei zunehmendem Bewusstsein schließlich konstruktiv verhalten. Das erste städtische Ergebnis der industriellen Revolution war London und die englische Literatur des XIX. Jahrhunderts legt Zeugnis über ein Bewusstwerden von den Problemen der Atmosphäre und der in einem großen Stadtgebiet qualitativ verschiedenen Möglichkeiten ab. Eine Wendung der langsamen historischen Entwicklung der Leidenschaften findet mit der Liebe zwischen Thomas de Quincey und der armen Ann statt, die zufälligerweise getrennt wurden und sich “im riesigen Labyrinth der Londoner Straßen” suchen, ohne sich je zu treffen, “obwohl sie vielleicht nur einige Schritte voneinander entfernt sind…”. Thomas de Quinceys wirkliches Leben in der Zeit zwischen 1804 und 1812 macht aus ihm einen Vorläufer des Umherschweifens: “Indem ich strebsam danach suchte, wie ich den NORDWESTEN DURCHQUEREN könnte, um all die Kaps und Vorgebirge nicht wieder umschiffen zu müssen, auf die ich während meiner ersten Fahrt gestoßen war, ging ich plötzlich in ein Straßengewirr hinein … Manchmal hätte ich glauben können, ich als erster hätte einige dieser terrae incognitae entdeckt und ich bezweifelte, dass sie in den modernen Karten Londons verzeichnet waren.” Und am Ende des Jahrhunderts ist dieses Gefühl in der Romanschreibung so allgemein anerkannt, dass man bei Stevenson eine Gestalt findet, die nachts in London darüber staunt, “so lange mitten in einer so komplizierten Szenerie zu gehen, ohne nur die Spur eines Abenteuers zu finden.” Die Städteplaner des XX. Jahrhunderts müssen Abenteuer bauen.
Die einfachste situationistische Handlung wird darin bestehen, alle Erinnerungen an die ZEITANWENDUNG unserer Epoche abzuschaffen. Es ist eine Epoche, die bisher stark unter ihren Verhältnissen gelebt hat.