‘Le Monde’ ist die angesehenste Zeitung französischer Sprache. Neben dem üblichen Journalismus stellt sie eine qualitative Information dar; ihre Redakteure legen ein bestimmtes Talent an den Tag und diese Zeitung ist nicht an die rohen alltäglichen Tatsachen gebunden: sie versucht dagegen, deren Ursprung und Entwicklung zu zeigen. Was ihre allgemeine Haltung betrifft, so besteht sie in der Unparteilichkeit, dem Respekt vor den Tatsachen und der Aufrechterhaltung dieser geistigen Werte, auf die sich die aufgeklärte Bourgeoisie damals bezog. Da jede Kultur zur wohlbekannten Prestigeangelegenheit geworden ist, bedeutet ‘Le Monde’ in erster Linie eine illusorische geistige Aufwertung für die meisten ihrer Leser; dann - was kein Widerspruch ist - liefert sie das Maximum an unter den bestehenden Verhältnissen zugänglicher Information, und sie wird tatsächlich vor allem von den Führungskräften in Verwaltung und Wirtschaft gelesen.
Der absolute Respekt vor den Tatsachen in ‘Le Monde’ ist der absolute Respekt vor dem Geschehenen, das wohlwollende Verständnis für das Vollendete, eine Höflichkeit, die über die ideologischen Zusammenstöße hinaus allen als grundsätzlich gleich anerkannten Besitzern einer Staatsräson gleich zugestanden wird. ‘Le Monde’ kritisiert zwar sehr oft die Macht, sei es in Frankreich oder in irgendeinem anderen Land, das geschieht aber immer wieder vom Standpunkt des maximalen Interesses der Macht aus. Dieser wird immer ein universaler guter Wille angerechnet und ‘Le Monde’ macht ihr edelmütig Vorhaltungen, die sie verbessern möchten. Die Tatsachen, die einer Macht entgegentreten, werden nicht verheimlicht, wenn sie über einen bestimmten Grad der Offensichtlichkeit hinaus zum Vorschein kommen; es wird aber versichert, man werde Herr über sie werden, bzw. bedauert, man werde es damit nicht so leicht haben. Wird die gestrige Legalität durch irgendeinen Putsch verändert? ‘Le Monde’ bemüht sich sofort darum, die Nachfolger zu rechtfertigen. In der darauffolgenden Stunde werden sie mit dem Recht auf die Macht von Gottes Gnaden gesalbt. Die bereitwillige Anerkennung aller Mächte zugleich ist der beste Ausdruck dieses Zynismus und dieser Naivität, die von der unparteilichen Information nicht zu trennen sind. Der Realismus von ‘Le Monde’ besteht darin anzunehmen, dass jede Macht den gleichen Wert habe, und ihre Wertlosigkeit besteht darin zu glauben, dass die Hellsichtigkeit, mit der sie jede Einzelheit behandelt, mehr wert ist als die irgendeiner Macht. ‘Le Monde’ hat keine einzige Macht kritisiert und hat sie folglich niemals besser verstanden, als diese Macht sich selbst verstehen kann. ‘Le Monde’ hat genau dieselbe Haltung wie der gebildete und ehrfurchtsvolle Zuschauer, zu dessen Bildung sie bei ihren Lesern beiträgt.
Nach der neusten Wahlkampagne in Frankreich, der gewissen Manifestation der absolutesten ‘Entpolitisierung’, die es je gegeben hat (da die Wähler es massenweise gewählt haben, ihre Macht für 7 Jahre dem einen oder anderen der beiden Figuren zu übertragen, die ihnen nicht einmal die geringste Möglichkeit ließen, über ein Programm oder die Kontrolle über ihre späteren Handlungen nachzudenken), hat ‘Le Monde’ behauptet, die Franzosen seinen wieder politisiert. Diese ununterbrochen wiederholte Erfindung wird in folgendem Vorwort ‘einiger Organisationen und Persönlichkeiten’ genau zusammengefasst, die am 30.April in Grenoble ein ’sozialistisches Treffen’ veranstalten wollen, das denselben Ton anstimmen wird: “Die Wahl des Präsidenten hat im Gegensatz zu pessimistischen Interpretationen der Tendenzen der ‘Industriegesellschaft’ bewiesen, dass die öffentliche Meinung in Frankreich keineswegs den Staatsangelegenheiten gegenüber gleichgültig geworden ist” (21.1.66). Ein solcher Ton der zurückhaltenden Verherrlichung wird auf pittoreske Weise schwierig, wenn es sich darum handelt, den bürokratischen ‘Sozialismus’ anzupreisen, der es seinen Bewunderern nicht leicht macht (vgl. selbst Sartre in einigen Augenblicken seiner Laufbahn). So schrieb Maurice Duverger in ‘Le Monde’ vom 10.Dezember: “Vor 10 Jahren empörte die Herrschaft der UdSSR über Osteuropa mit Recht das westliche Bewusstsein und das fiel auf den ganzen Kommunismus zurück. Seit dieser Zeit hat sich die Lage beträchtlich verändert, und sie wird sich noch mehr verändern.” Wer diesen Satz liest, kann nur verstehen, dass das betreffende Bewusstsein sich verändert hat. Zehn Jahre, das ist eine lange Zeit und man kann die Müdigkeit der Bewunderer verstehen. Aber eben dieselben gewissenhaften Leute schrecken auf, weil sie jetzt wieder zu dienen haben, während sie glaubten, endlich das Recht auf Schweigen erworben zu haben. Nach der Verurteilung der satirischen Schriftsteller Daniel und Siniavski schreibt ‘Le Monde’ in ihrem ‘Auslandsbulletin’ vom 16.Februar: “Ungefähr 50 Jahre nach der Revolution und während ihrer bemerkenswerten Erfolge in der Eroberung des Weltalls ereifert sich die UdSSR gegen zwei Schriftsteller… Das ist eine große Enttäuschung für alle, die der Ansicht waren, dass die UdSSR, nachdem sie ihren stalinistischen Teufel ausgetrieben hatte, sich zu einer echten sozialistischen Demokratie entwickeln würde.” Enttäuschungen dieser Art werden diejenigen allerdings sehr oft erfahren müssen, die den Erfolg einer Revolution mit einer sozialistischen Demokratie gleichstellen, deren Wirkungen nur auf dem Mond festzustellen sind. Es genügt, dass ein Aragon, der für seine 35 jährige absolute Ergebenheit in die verbrecherischsten Betrügereien allgemein bekannt ist, dazu bestimmt wird, ein leichtes Bedenken der französischen Stalinisten zum Ausdruck zu bringen, damit die Hoffnung der Befürworter der bürokratischen Demokratisierung wieder bis zum Kosmos aufschnellt!
Von den algerischen Ereignissen bringt ‘Le Monde’ für seine Leser nur einige wegen ihrer Harmlosigkeit ausgewählte Flugblätter heraus. Ein aus Algerien ausgeübter Druck hat sie davon abgehalten, andere zu zitieren (vgl. ihre Verteidigungsrede vom 27.8.65 nach einigen Beschlagnahmen: “Ist das die Beschwerde gewisser Behörden in Algier gegen ‘Le Monde’?”). Wenn sie doch einmal über die gewaltsamen Straßendemonstrationen und den ersten Studentenstreik in Algier (1.2.1966) berichten muss, so verbindet sie ihre betrübte Diagnose mit einer Huldigung der schönen Seelen des ‘Boumediennismus’, die die vorigen Helden innerhalb von einer Stunde abgelöst haben: “Durch diese Ereignisse wird die immer deutlichere Trennung zwischen der Nationalen Vereinigung der algerischen Studenten (UNEA) und der FNL veranschaulicht. Da die Beziehungen zwischen der UGTA (Nationale Vereinigung der algerischen Arbeiter) und der Partei kaum besser sind, wird deutlich, dass die hauptsächlichen nationalen Organisationen in ihrer abwartenden Haltung gegenüber einem Regime bleiben, dessen Stabilität zur Zeit nur auf der Armee und der Polizei beruht trotz seiner aufrichtigen Bemühungen, den Missbräuchen des alten Regimes zu begegnen.” ‘Le Monde’ ist der Staatsanzeiger jeder Macht. Wir gebrauchen sie in diesem Sinne.