Die Suche nach einer Weiterentwicklung dieser oder jener kulturellen Tätigkeit hat keinen Sinn mehr, geht man nicht von einem Ganzen aus, das sich auf die gesamte Gesellschaft erstrecken wird. Dieser Gedanke, der allen Theorien der Nachkriegsavantgarde zugrunde liegt, bildet die Charakteristik, die sie von der Avantgarde der vorigen Periode unterscheidet.
Die rein formellen Forschungen sind stehengeblieben und es fanden seit dem Krieg keine neuen Entwicklungen im Stil irgendeiner Kunst statt.
Im Gegenteil sind die individuellen Künste beträchtlich uninteressanter geworden, würdigte sich das Kunstwerk zu einem banalen Artikel herab und jede echt schöpferische Tätigkeit konzentriert sich auf die Synthese und die Verbindung der Kräfte…
Der Verfall der herrschenden Kultur ist eine überall zu beobachtende Tatsache geworden. Es gibt keinen Gedanken, keine Handlung, kein Produkt der bestehenden Kultur mehr, die über ein Verständnis von unserer Epoche Zeugnis ablegt. Die Kultur ist auf Nichts reduziert! Auch die Grundsätze der Kobra-Bewegung haben zu nichts geführt und das uns von Kobra bei ihrem ruhmlosen Tod hinterlassene Erbe bestand nur aus formellen Varianten der individuellen sich auflösenden Techniken - dem Neo-Expressionismus in Malerei und Dichtung.
Die Erinnerungen an das Kriegselend, aus dem dieser Expressionismus seine Inspiration schöpfte, sollten aber nach und nach immer schwächer werden. Eine neue Generation trat hervor. In Frankreich ergriff die Lettristische Internationale die Initiative. 1955 war in ‘Potlatch’ No.22 folgendes zu lesen: “Man wird wohl verstanden haben, dass unsere Sache keine literarische Schule, keine Erneuerung des Ausdrucks, kein Modernismus ist. Es handelt sich um eine Lebensweise, die noch manche provisorische Untersuchungen und Formulierungen durchlaufen wird und die dahin tendiert, sich ausschließlich im Provisorischen durchzusetzen. Das Wesen dieses Unternehmens schreibt uns vor, als Gruppe zu arbeiten und uns wenig öffentlich zu äußern: Wir erwarten viel von den Leuten und den Ereignissen, die bestimmt kommen. Diese andere, große Kraft haben wir auch, nichts mehr von einer Menge bekannter Aktivitäten, Individuen und Einrichtungen zu erwarten. Wir müssen sowohl Formen der Architektur als auch Verhaltensregeln experimentieren.”
Seit 1956 begannen die Leute zu kommen, von denen die Lettristen sich etwas erhofften. Die ‘Internationale Bewegung für ein Imaginistisches Bauhaus’, die von Jorn und Gallizio gegen das funktionalistische Ulmer Bauhaus begründet worden war, organisierte einen Kongress in Alba. Constants Intervention sollte dort unseren Weg vorzeichnen: “Zum erstenmal in der Geschichte kann die Architektur eine echte Kunst der Konstruktion werden … Das Leben wird in der Poesie wohnen.” Und der Delegierte der Lettristen formulierte die Schlussfolgerung dieses Kongresses wie folgt: “Die parallelen Krisen, die heute alle Formen der künstlerischen Schöpfung treffen, werden durch einen Gesamtprozess bedingt und ihre Lösung kann nur in einer Gesamtperspektive erreicht werden. Die Bewegung der Verneinung und der Zerstörung, die gegen alle alten Bedingungen der künstlerischen Aktivität immer schneller zutage getreten ist, ist unwiderruflich: sie folgt aus dem Auftauchen höherer Möglichkeiten einer Wirkung auf die Welt.”
Ein Jahr danach wurde während der Cosio d’ Arroscia-Konferenz die Situationistische Internationale gegründet.
Diese neuen Möglichkeiten führen zu menschlichen Aktivitäten, die insgesamt jenseits der Nützlichkeit liegen - und zwar zur Freizeit und zu höheren Spielen. Entgegen dem funktionalistischen Denken fängt die Kultur dort an, wo das Nützliche aufhört. Empfinden wir heute nicht recht peinlich den Mangel an Kultur gerade bei dem Elend des Fernsehens und des Motorrollers? Eine Revolution des Lebens geht einer Revolution der Kunst voran. Nur mit den situationistischen Mitteln ist der unitäre Urbanismus möglich.
Für die Verwirklichung eines unitären Urbanismus sieht man schließlich die Notwendigkeit von ganz neuen Methoden und Techniken ein, die die bestehenden Kunsttechniken ersetzen würden.
Die Kultur ist schon so veraltet und rückständig, vergleicht man sie mit der Wirklichkeit des Lebens, dass sie nicht einmal imstande ist, die dem Menschen zur Verfügung stehenden technischen Erfindungen zu benutzen. Bevor man weitergehen kann, muss die gesamte Rüstkammer der Kulturkonventionen erneuert werden. Das schafft man nur durch Gruppenarbeit.
Vor allem notwendig ist die Konstruktion neuer Situationen als Rahmen neuer Tätigkeiten. Die Konstruktion von Situationen ist die Vorbedingung für die Schaffung neuer Formen - dort ist die Aufgabe der heutigen Schöpfer.
Die primitive Konzeption des gegenwärtigen Urbanismus als einer Organisation von Räumen und Bauwerken nach ästhetischen und utilitaristischen Grundsätzen soll aufgehoben werden durch ein Konzept der Wohnung als Szenerie für das gesamte Leben und als Kollektivschöpfung auf der Ebene einer echten Kunst, einer komplexen Kunst mit sehr vielfältigen Mitteln.
Der heutige Künstler tritt einer absoluten kulturellen Leere entgegen - keine Ästhetik, keine Moral, keine Lebensweise. Alles muss erfunden werden.
In dieser schwierigen Lage verfügt er über eine große Kraft - und zwar darüber, dass er das Vorübergehende akzeptiert und das Leben als durch die Vergänglichkeit der Zeit begründet versteht. Unser wesentliches Schöpfungsbedürfnis kann nur durch dieses neue Verhalten befriedigt werden. Indem wir auf die festgesetzte Form verzichten, gewinnen wir alle Formen, die wir erfinden und dann verwerfen. Aus der Fülle wird eine neue Kultur entstehen. Diese neue Haltung setzt auch voraus, dass wir auf das Kunstwerk verzichten. Uns interessiert die ununterbrochene Erfindung - die Erfindung als Lebensweise.
Die individuellen Künste waren mit einer idealistischen Haltung, mit der Suche nach dem Ewigen verbunden.
Allein der Urbanismus kann zu dieser einheitlichen Kunst werden, die den Forderungen einer dynamischen Kreativität - der Kreativität des Lebens – entspricht.
Der unitäre Urbanismus wird die immer veränderbare, immer lebendige, immer aktuelle und immer schöpferische Tätigkeit des Menschen von morgen sein.
All das, was wir heute tun, soll in Bezug auf diese Perspektive betrachtet werden und diesen Weg vorbereiten.
A. Alberts, Armando, Constant, Har Oudejans